War sie wirklich allein? Sie brauchte ihrem Chef gegenüber doch nur etwas zugänglicher sein, dann hätte sie zumindest jemandem, mit dem sie reden konnte und der sie wohl auch gernhatte. Ach, sie wusste selbst nicht, was sie tun sollte, und fühlte sich wie eine Versagerin. Sie hatte nicht einmal Freude an ihrer Arbeit.
»Nun sagen Sie schon, was passiert ist.«
Hartmuth Grünberg, der sie auch an diesem Nachmittag schon eine Weile forschend gemustert hatte, war anzumerken, dass er sich Sorgen um sie machte.
»Sie werden das doch nicht verstehen. Ich verstehe mich ja selbst nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Es ist etwas sehr Privates.«
»Wirkt sich aber doch auf Ihr Wohlbefinden und auch auf die Arbeit aus.«
»Ja, das stimmt«, gab sie betreten zu. »Das tut mir leid.«
Er schaute auf seine Armbanduhr und schlug dann vor: »Es ist ja sowieso schon Feierabend. Wollen wir irgendwo was essen gehen? Und dabei erzählen Sie mir dann, was Sie so sehr bedrückt.«
»Sie werden nicht mehr sehr gut von mir denken, wenn Sie das wissen.«
»Jeder Mensch hat Fehler. Und wenn Ihnen die Ihren schon klar geworden sind, ist das ein positiver Anfang. Nun, wie lautet Ihre zustimmende Antwort?«
Sein Humor war so entwaffnend, dass sie schließlich nachgab.
»Ich möchte nicht in ein Lokal gehen, weil …, weil man da nicht allein ist. Ich fange bestimmt an zu weinen. Wenn Sie zu mir kommen möchten, dann …, dann können Sie sich mein Sündenregister ja anhören.«
Er lächelte verständnisvoll und erwiderte: »Das mache ich gern. Sagen wir, um 19:30 Uhr?«
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu und entgegnete dann nur: »Ja, das ist eine gute Zeit.«
*
Er war zwar noch nie bei ihr gewesen, wusste aber genau, wo seine beste und heimlich geliebte Mitarbeiterin wohnte. Dass sie ihn zu sich einlud, war vielleicht schon der erste Schritt auf dem Weg zu ihr. Professor Dr. Hartmuth Grünberg war dennoch alles andere als gut zumute, als er mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage des erst vor wenigen Jahren erbauten Hauses fuhr. Vielleicht brauchte sie ihn heute, auch wenn er ganz gewiss nicht der Mann ihrer Träume war. Bereits fünfundvierzig, groß und hager mit Brille und schon leicht ergrauten Haaren, würde sie in ihm im Höchstfall einen Freund sehen. Aber vielleicht irgendwann auch mehr.
Unterdessen war er vor ihrer Wohnungstür angekommen, hatte geklingelt und saß bald darauf mit ihr in ihrem schick eingerichteten Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem ovalen Glastisch standen Gläser mit Orangensaft, an denen sie ab und zu nippten.
»Und nun schütten Sie mal Ihr Herz aus«, forderte er sie auf. »Auch wenn ich Ihnen nicht helfen können sollte, so ist es doch immer gut, wenn man mit jemandem darüber gesprochen hat.«
»Ja, natürlich.« Sie zerknüllte ihr Taschentuch, trank einen Schluck und begann: »Sie wissen ja, dass ich geschieden bin. Was Sie aber nicht wissen, ist, dass ich meinen Mann gewissermaßen Knall und Fall verlassen habe. Da war unser Kind erst ein paar Monate alt. Ich habe es nicht mehr ausgehalten zwischen Windeln und Babygeschrei, ich wollte mich nur auf meinen Beruf konzentrieren und Karriere machen, wollte mehr Geld haben, um mir mehr leisten zu können: Markenkleidung, gute Schuhe, Reisen und so weiter. Ich wollte nicht für eine Familie sorgen müssen und fand meinen Mann spießig, weil er ganz andere Ansichten hatte als ich. Anfangs war auch alles gut, meine Eltern schenkten mir diese Wohnung, ich hatte viel zu tun, hatte Geld und konnte endlich einkaufen, was ich wollte. Dabei vergaß ich allerdings oft, die Alimente für die Kleine zu zahlen. Ehrlich, ich habe nicht oft an mein Kind gedacht. Ich nahm an, mein Mann und seine Großmutter würden sich schon ausreichend um sie kümmern.«
»Und dann haben Sie sich scheiden lassen«, warf Grünberg ein.
»Ja, wir fanden es besser so.«
»Und dann?«
»Dann geschah eigentlich nichts mehr. Ich hatte längere Zeit eine Beziehung zu einem etwas jüngeren Mann, zu Mario Samuel, den Sie ja auch kennen. Wir hatten unseren Spaß, aber irgendetwas fehlte. Und als er mir vor ein paar Wochen erklärte, er würde Vater und wolle die Mutter seines Kindes heiraten, haben wir uns getrennt. Danach fühlte ich mich sehr einsam und beschloss, zu Ostern zu meinem Ex-Mann und unserer Tochter zu fahren …«
Hartmuth Grünberg bekam nun die ganze Geschichte von einem Mann zu hören, der durchaus noch Interesse für die Ex-Frau hatte. Das kleine Mädchen jedoch sah in einer anderen Frau ihre Mutter und war auch nicht durch Geschenke und nette Worte vom Gegenteil zu überzeugen.
»Sie wundern sich doch nicht etwa darüber?«, fragte er in ruhigem Ton.
»Nein, jetzt nicht mehr. Das Schlimme ist nur, dass Henrik diese Frau heiraten wollte und sie ihn und das Kind jetzt verlassen hat. Ich habe alles kaputt gemacht, mein Leben und das der anderen auch.«
Evelin schluchzte laut, nachdem sie den letzten Satz hervorgestoßen hatte, und setzte dann hinzu: »Nun hat Reni überhaupt keine Mutter mehr. Und Henrik will nicht mehr mit mir sprechen.«
»Keine schöne Sache, das gebe ich zu. Aber Sie haben daran nicht allein die Schuld. Ihr ehemaliger Mann hat mit Ihnen geschlafen und hat sicher gewusst, dass er damit die Beziehung zu seiner neuen Partnerin aufs Spiel setzt.«
»Wir haben gedacht, es kommt nicht raus.«
Der Professor lächelte unwillkürlich. »So etwas kommt meistens heraus.«
»Was soll ich nun bloß machen?« Sie schaute flehend zu ihm hin, worauf er nachdenklich erwiderte: »Sie müssen sich darüber klar werden, was sie selbst wollen. Wenn Sie Ihren Mann noch lieben und dem Kind in Zukunft eine gute Mutter sein wollen, dann kämpfen Sie um beide. Das bedeutet aber auch, dass Sie dann nicht nur die Karrierefrau sein können. Sie wären dann nicht mehr allein, müssten aber in beruflicher Hinsicht Abstriche machen. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass er Haushalt und Kinderpflege allein bewältigt.«
»Ich hatte an eine Frau gedacht, die sich um den Haushalt kümmert und Kind betreut, aber das will Henrik absolut nicht. Er will auch nicht hierherziehen.«
»Dann gehen Sie zu ihm zurück.«
»In dieses Provinznest? Niemals!«
»Dann haben Sie ja bereits eine Entscheidung getroffen, und Ihr ehemaliger Mann ebenfalls. Sie können in diesem Fall für Ihre Tochter wahrscheinlich nur noch eine nette Tante werden, die sich ab und zu mal sehen lässt. Und vielleicht wäre es gut, wenn diese Tante in Zukunft einen – Onkel – an ihrer Seite hätte, der ihr die Einsamkeit vertreibt – und der selbst recht einsam ist.«
»Und dieser – Onkel – wären Sie?«
»Ja, ich hätte an diesem Job durchaus Interesse und kann mir unser Zusammenleben sehr schön vorstellen. Ich bin natürlich nicht mehr so jung und auch nicht so hübsch wie Mario Samuel.«
Sie zögerte, holte tief Luft und meinte dann warnend: »Ich kann nicht besonders kochen und backen schon gar nicht.«
»Das macht nichts.«
»Ich möchte diese Wohnung nicht aufgeben.«
Er sah sich um und erklärte anschließend: »Sie scheint mir recht geräumig zu sein, aber für den Anfang könnte man es ja mit gemeinsamer Freizeitgestaltung versuchen. Wir könnten reisen und uns die Welt ansehen.«
Sie fühlte sich von seinen Zukunftsplänen tatsächlich getröstet, viel mehr, als sie erwartet hatte. Und als er nun mit einem leisen Lachen vorschlug: »Wollen wir ›Du‹ zueinander sagen?«
Da lächelte sie ihm zu und sagte ganz einfach: »Ja.«
*
Reni verging