Nicht immer funktioniert allerdings der Heimvorteil in die richtige Richtung. Manchmal kann es selbst in den größten Hochburgen der parteiischen Emotionen zu extremen Umkehrungen der Zuschauerwirkung kommen. Der wohl berühmteste Fall ist das entscheidende WM-Spiel am 16. Juli 1950, bei dem elf Kicker aus Uruguay nicht nur gegen eine brasilianische Supermannschaft, sondern auch noch gegen die Weltrekordzahl von 203.849 Zuschauern im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro anzuspielen hatten. Erst nach dem Spiel konnte Uruguays Torwart Maspoli gelassen erklären: „Wir wussten, dass diese Kulisse Himmel und Hölle zugleich sein könnte. Sie wünschte Brasilien den Sieg, aber sie würde dieser Mannschaft auch kaum einen Fehler verzeihen.“ Als nach dem 1:1-Ausgleich „plötzliche Kühle auf den Rängen“ herrschte, will Maspoli gesehen haben, wie sich im Gesicht eines jeden Brasilianers „unglaublicher Schrecken“ spiegelte. Und nachdem sich das Stadion von seiner tiefen Depression wieder erholt hatte und das Dröhnen der Anfeuerung wieder auf Touren gekommen war, verstummte es kurz vor Schluss mit einem Schlag – Uruguays Ghiggia hatte ein unwiderstehliches Solo mit einem Schuss aus spitzem Winkel ins kurze Eck abgeschlossen. Während Torwart Barbosa geschlagen am Boden lag, herrschte lähmendes Entsetzen in dem Stadion, das als Fußball-Tempel errichtet worden war und sich nun in ein Leichenschauhaus verwandelt hatte. Später, als die grenzenlos erschütterten Trauergäste immer noch weinten, schlich der verhinderte Triumphator, Brasiliens Trainer Flavio Costa, als Kindermädchen verkleidet, von dannen. Vorher hätten alle nur von der großen Feier gesprochen, jammerte der geknickte Torwart Barbosa. „Das war ein gravierender Fehler und hat uns letztendlich das Genick gebrochen.“ Jahre später fand der Schütze des entscheidenden Tores, Alcide Eduardo Ghiggia, große Worte zur Umschreibung des denkwürdigen Ereignisses: „Es hat nur drei Personen gegeben, die das vollbesetzte Maracana-Stadion zum Schweigen bringen konnten: Frank Sinatra, Papst Johannes Paul II. und ich.“ Aber es war wohl mehr als nur ein schlichtes Schweigen. Für die Brasilianer waren es, wie der Journalist Carlos Maranhao schrieb, die „Augenblicke finsterster Stille seit der Ankunft der Portugiesen 1565“.
Im normalen Fan-Leben geht es nicht ganz so spektakulär zu, weder auf dem Rasen noch auf den Rängen. Aber auch hier gibt es Erlebnisse, die man nie vergisst. Heute noch bin ich beeindruckt vom Finale der Zweitligasaison 1984/85. Mein Verein, der 1. FC Nürnberg, war wieder einmal abgestiegen. Es gab eine Runderneuerung: neues Präsidium, neuer Manager, zwölf neue Spieler. Aber alles nützte nichts, der Saisonstart war verkorkst. Es kam zur „Oktoberrevolution“ gegen Trainer Höher und zur Entlassung von sechs Profis. Im folgenden Auswärtsspiel in Aachen trat der „Club“ mit einer „Kinder-Mannschaft“ (Durchschnittsalter unter 21 Jahre) an und verlor ehrenvoll mit 1:2. Danach waren die „Kinder“ nicht mehr zu stoppen. Das junge Team mit Eckstein, Grahammer, Reuter, Dorfner eilte in der Rückrunde mit begeisterndem Fußball von Sieg zu Sieg, errang 27:9 Punkte. Am letzten Spieltag gab es ein „Endspiel um den Aufstieg“ gegen Hessen Kassel. Ich hatte nur noch einen ganz schlechten Platz bekommen, auf Höhe der Eckfahne in der Südkurve. Egal, Hauptsache, ich bin dabei. Eine Stunde lang Anspannung. Endlich erzielt Eckstein das 1:0. Mein Herz pumpt, Kassel drängt auf den Ausgleich. Kurz vor Schluss schnappt sich Thomas Brunner noch in der eigenen Hälfte den Ball und startet durch. Allein strebt er dem Kasseler Tor zu. Die Zeit bleibt stehen, das Stadion hält den Atem an. Tor! Aufstieg! Tränen kullern über Wangen.
„Alles, wirklich alles wäre möglich gewesen, wenn diese Mannschaft damals zusammengeblieben wäre“, sagt Hans Dorfner noch heute. Sie tat es nicht. Und so wurden die Freuden wieder spärlicher. Aber dankbare Anhänger auf den Rängen gab es immer noch. Unvergessen bleibt mir jener Moment, als ich nach einem der selten gewordenen „Club“-Siege gerade nach Hause gehen wollte und vor dem Ausgang des Blockes einen alten Mann weinend am Boden kauern sah; überwältigt vom Glück, dabei von seiner Frau streichelnd getröstet, konnte er nur eines stammelnd immer wieder von sich geben: „Dass ich das noch erleben darf, dass ich das noch erleben darf …“
Ich glaube, es war ein Spiel gegen Wattenscheid 09.
REGELN
Der Fußball findet im Stadion seinen Höhepunkt. Aber er wird natürlich nicht nur im Stadion gespielt. Außerdem ist es möglich, auf viele verschiedene Arten und Weisen Fußball zu spielen. Als Kind spielte ich mit meinen Freunden in einer wenig befahrenen Wohnstraße auf ein Garagentor oft „Pensionieren“. Da galt es, den Ball „in der Luft“ einander zuzuspielen, um ihn dann volley aufs Tor zu schießen. Das Schießen ging einigermaßen, nur mit dem Hochhalten hatte ich einige Probleme. Besser war’s auf der „Schäferswiese“, wo die großen Spiele stattfanden. Gleich nebenan lag der Platz des Sportbundes Morgenrot-Mögeldorf, den wir manchmal benutzen durften. Dort traten wir in einheitlichen Trikots mit aus Filz selbst gemachten Wappen als Sportklub Tiergarten (SCT) gegen den Sportverein Mögeldorf (SVM) an. Auch Mädchen spielten mit. Gemein war allerdings, dass wir im Schnitt zwei bis drei Jahre jünger waren als die SVM-Spieler. Wir haben nie gewonnen.
Auch andere haben in ähnlicher Weise in Sackgassen und auf Bolzplätzen begonnen, oder, in sonnenverwöhnten Ländern wie in Brasilien, am Strand. Heute gibt es auch verregelte Varianten dieses „kleinen“ Fußballs. An der berühmten Copacabana in Rio de Janeiro wird der Beach Soccer in Ligen ausgetragen. In Südamerika und Südeuropa findet Futsal, eine von der FIFA geförderte Variante des mit Teams zu je fünf Spielern betriebenen Hallenfußballs, eine immer größere Verbreitung. Die brasilianischen Rororo-Stars – Ronaldo, Ronaldinho, Robinho – haben sich ihr hervorragendes balltechnisches Können allesamt bei diesem Kleinfeld-Fußball angeeignet. Wie beim Beach Soccer gibt es auch beim Futsal eine weltweite Wettbewerbsstruktur mit Ligen und Weltmeisterschaftsturnieren. Sogar eine seltsame Sportart wie der in Finnland sehr beliebte „Swamp Soccer“, bei dem sich die Fußballer durch knietiefe Schlammfelder kämpfen, kennt internationale Turniere.
All diese Fußball-Varianten sind in Deutschland bislang weitgehend unbemerkt geblieben. Schlammfußball ist sowieso eher ein Partygag, Sandstrände gibt es in Deutschland kaum, und Hallenfußball, die nordeuropäische Variante des meist auf Betonböden betriebenen Futsal, ist in Europa bis heute als Aktiven- wie als Zuschauersport nicht mehr als eine eher ungeliebte Ausweichmöglichkeit für den Winter. Einige wenige haben – so wie der ehemalige deutsche Rekordnationalspieler Herbert Erhard – das Fußballtennis als Ausgleichs- und Alterssport entdeckt, und im Training der Fußballvereine werden alle möglichen Spielvarianten ausprobiert. Grundsätzlich aber meint man, wenn man vom Fußball spricht, immer das „große“ Spiel. Bis jetzt jedenfalls ist kaum vorstellbar, dass irgendwo auf der Welt jemand nicht wüsste, welches Spiel bei einer „Fußball-Weltmeisterschaft“ betrieben wird.
Trotz einer mittlerweile sehr großen Auswahl an unterschiedlichen Fußballspielen hat nur eines den ganz großen Erfolg. In der Politik sind sich die Menschen uneinig und wählen Parteien unterschiedlicher Couleur, aber in ihrer Freizeit herrscht seltene Einigkeit in der Wahl. Fast alle, die vor dem Fernseher Fußball gucken oder öfter ins Stadion gehen, haben irgendwann auch mal selbst gegen einen Ball getreten. Die Liste der ehemaligen Kicker reicht vom einfachen Mann auf der Straße bis hin zum Regierungschef. Ex-Kanzler Gerhard Schröder pflügte beim Bezirksligisten TuS Talle als „Acker“ den Rasen um, Edmund Stoiber kickte ebenfalls im Verein, wenn auch nur, in Wolfratshausen,