Mexiko: Das Spiel um Leben und Tod
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VORWORT
Seit 1995, als die erste Ausgabe dieses Buches erschien, hat sich in Sachen Fußball enorm viel geändert. Damals galt Fußball in weiten Kreisen noch als „niedere“ Sache, ganz im Sinne des Psychologen F.J.J. Buytendijk, der vor über 50 Jahren im „gemeinen Hundstritt“ den Kern des Spiels ausmachte. Nach dem Erscheinen des Buches fragte ich bei einem „Literatur-Café“ an, ob nicht mal an einer Lesung zu Thema Fußball Interesse bestünde. Da hieß es: „Fußball?! Kann man darüber überhaupt was schreiben?“
Man konnte durchaus, das Ergebnis lag ja vor. Und man konnte auch argumentieren. Fußballerisches lässt sich sogar mit beinahe allen klassischen Kunstgattungen vergleichen. So konnte man sagen, dass die Masse in einem Stadion wie „ein großes lebendes Gemälde“ ist und es solche Gemälde auch tatsächlich gibt, dass die Könner des Spiels wie große Schriftsteller „auf dem Rasen meisterhaft durchdachte, komplexe und in sich geschlossene Skizzen, Parabeln und Kurzgeschichten“ entwerfen, dass das „künstlerische Material“ des Fußballers der Körper ist, an den wie bei Tanz und Ballett Ansprüche an Bewegung, Rhythmus und Timing gestellt werden, dass Fußballspieler das Spiel „interpretieren“ können, so wie große Schauspieler „ihre Rolle gestalten“, und schließlich, dass sich die Zuschauer vom Geschehen im Stadion in den Bann schlagen lassen wie von einem Drama im Theater. All das konnte man sagen. Doch ein kulturbeflissenes Publikum mit solchen Thesen unterhalten – das konnte man offensichtlich nicht, jedenfalls durfte man es nicht. Dazu waren die Vorurteile zu groß, der Fußball war und blieb schmutzig, proletenhaft, unintellektuell.
Heute ist das ganz anders. War der deutsche Buchmarkt zum Thema Fußball vor zehn Jahren noch absolut überschaubar, so ist heute ein Dschungel entstanden; bei der Frankfurter Buchmesse 2005 war ein ganzer Saal für das Thema reserviert. Und, angeregt durch die Weltmeisterschaft 2006, interessieren sich plötzlich nahezu alle Kulturschaffenden für das Thema, sogar eine Akademie für Fußball-Kultur wurde gegründet, und im Vorfeld des Großereignisses wurde ein noch nie da gewesenes Kulturprogramm aufgelegt: Kunst- und Foto-Ausstellungen, Lesungen, Filme, Theaterstücke und Tanzshows etc. pp. Der Hype nahm solche Ausmaße an, dass sich der „Spiegel“ zu der Frage genötigt sah: „Wer rettet den Fußball vor den Intellektuellen?“
Man muss ihn nicht retten, denn der Erfolg des Spiels war schon lange vor diesem „Kulturschock“ da. Nach dem „Big Count“ der FIFA gab es im Jahr 2000 ca. 242 Millionen Spieler und Spielerinnen. Mit 20 Millionen Vereinsspielerinnen ist Fußball dabei auch der beliebteste Frauensport der Welt. 2005 begrüßte die FIFA die Landesverbände Nr. 206 und 207 und hat damit deutlich mehr Mitglieder als die Uno. Die vorab geschätzten Zahlen für die WM 2006 lauten: 3,2 Millionen Zuschauer in den Stadien; 40 Milliarden Fernsehzuschauer (für alle Spiele), davon rund 1,6 Milliarden gleichzeitig beim Endspiel. Jeder vierte Erdenbewohner macht für (mindestens) 90 Minuten dasselbe, nämlich Fußball gucken. Das ist die mit Abstand größte Gemeinde von Gleichgesinnten, die es jemals auf diesem Globus gegeben hat.
„Woran mag es nun liegen, dass gerade das Fußballspiel sich in verhältnismäßig so kurzer Zeit eine so zahlreiche Gefolgschaft sichern konnte?“, fragte der bekannte Journalist Willy Meisl bereits im Jahre 1928, und diese Frage sollte seitdem immer wieder gestellt werden. Auch dieses Buch ist dem Versuch gewidmet, das „Geheimnis“ des Fußballs zu entschlüsseln. Ob der Versuch gelungen ist, bleibe dem Urteil des Lesers überlassen. Vorab kann aber schon mal festgestellt werden: Sicher liegt er nicht daran, dass er ein besonders gutes Sujet für Intellektuelle und Künstler abgibt. Der Fußball ist als eine „Kunst des Volkes“ (Artur Hopcraft) groß geworden, die der künstlerischen Überhöhung nicht bedarf, weil sie zugleich auch mehr und eben weit realer und lebendiger als Kunst ist. So dramatisch der Fußball ist, so ist er eben doch nicht wie ein Drama im Theater. Klassische Dramen haben alle eine ähnliche Struktur, aber immer wieder einen anderen Text, der jeweils eine bestimmte Spielhandlung vorschreibt. Diese vorgegebenen Worte werden zwar vom Schauspieler nicht einfach nur reproduziert; aber so sehr er auch seinen Text interpretiert, er bleibt doch auf ihn festgelegt. Demgegenüber ergibt sich aus dem einzigen Text, der im Fußball festgelegt ist – dem Regeltext –, allein noch kein Drama. Das Textwerk reglementiert lediglich ein Handeln der Spieler, das sich aus anderen „Texten“ speist. Aus diesen „Texten“ – den regelmäßigen Handlungsvollzügen der menschlichen Lebenspraxis – nimmt auch der Dramatiker seinen Stoff: Wir und die anderen, Wille zum Sieg und Zweifel an seiner Möglichkeit, Held und Opfer, Triumph und Schicksal, Risiko und Sicherheit, Gefahr und Geborgenheit, Gruppe und Einzelner. Der Dramatiker bearbeitet seinen Stoff, gibt ihm eine Struktur vor, gießt ihn in eine feste Form. Nicht nur einzelne Texte also, das gesamte künstliche Text-Stück bleibt dann zwar noch interpretierbar, ist aber grundsätzlich für die Schauspieler, die es spielen, vorgegeben. Anders beim Fußball. Hier gibt es lediglich einen Rahmen für ein noch zu spielendes Drama, hier entsteht die Handlung erst aus dem Spiel selbst heraus. In jedem Match können die Zuschauer den Künstlern beim Dichten nicht nur über die Schulter (respektive auf die Füße) schauen, sondern durch Anfeuerung (oder Missfallenskundgebungen) den Verlauf des Dramas wesentlich selbst mitbestimmen.
Eines der größten Verdienste des Fußballs, so haben etliche Kommentatoren immer wieder betont, bestehe darin, dass er den „einfachen“ Menschen ein Gesprächsthema gegeben habe. Insofern braucht der Fußball keine „Spezialisten“, die sich mehr oder weniger kunstvoll mit ihm beschäftigen und ihre Bearbeitungen dann dem Publikum zur Diskussion stellen. Den Fußballfan interessiert das reale Geschehen und nicht die intellektuelle Interpretation oder die künstlerische