Daraufhin begeht Habetswallner einen Tabubruch, indem er, der Kleinbürger, die Waffe Gustls, das Statussymbol SäbelSymbol der militärischen Ehre schlechthin, einfach festhält: »er hat den Griff von meinem Säbel in der Hand« (S. 15). Als Höhepunkt der Auseinandersetzung nennt ihn der Bäcker gar »dummer Bub« (S. 15) und droht ihm, er würde seinen Säbel zerbrechen und die Überreste an seinen Regimentskommandanten schicken.
Gustl ist außer sich angesichts dieses Angriffs auf seine Ehre. Sein erster Gedanke, als ihm klar wird, wie ihm geschieht: »Um Gotteswillen, nur kein’ Bloß kein »Skandal!«Skandal« (S. 16). Durch die Körperkraft des Bäckers, »der zufällig stärkere Fäust’ hat« (S. 20), sowie durch seine eigene Verwirrung unfähig zu reagieren, sieht Gustl seinen Beleidiger von dannen ziehen. Völlig verwirrt findet er sich schließlich auf der Straße wieder: »Um Gotteswillen, hab’ ich geträumt? … Hat er das wirklich gesagt?« (S. 16) Den Dialog zwischen den beiden Männern hat keiner gehört, darauf legt der Zivilist wert, weil er dessen »Karriere nicht verderben« (S. 16) will: »So, hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört« (S. 16).
Die Gedanken des Leutnants überschlagen sich beim Bemühen, den vermeintlichen Skandal einzuordnen und eine Möglichkeit zu finden, um seine beleidigte Offiziersehre wiederherzustellen. Er beginnt eine Wanderung und eine Gustls BewusstseinsodysseeBewusstseinsodyssee durch das nächtliche Wien, in deren Verlauf der Verstörte versucht, Klarheit zu finden.
Das Problem: Sein Kontrahent ist Zivilist und damit nach militärischem Ehrenkodex nicht satisfaktionsfähig. Die Ehrenrettung kann also nicht, wie es unter Angehörigen des Offiziersstandes üblich gewesen wäre, durch Austragung eines Duells erfolgen. Allerdings hat wohl keiner der Konzertbesucher die Ehrverletzung mitbekommen – solange Gustl und sein Kontrahent also darüber schweigen, könnte Gustl die Sache auf sich beruhen lassen. Aber er kommt zu dem Schluss, dass ihm »nichts anderes übrig« (S. 19) bleibt, als sich »eine Kugel vor den Kopf« (S. 18) zu schießen.
Überraschendes Ende
Abb. 2: Gustls Weg durch Wien
Auf seinem Weg durch die Stadt legt der Leutnant eine Rast im Prater ein, wo er auf einer Parkbank einschläft (S. 32). Der dreistündige traumlose Schlaf unterbricht den inneren Monolog und bildet somit eine Zäsur für die Novelle wie für den Gedankenstrom des Protagonisten.
Nach dem Erwachen nimmt Gustl seine Wanderung und den Fluss seiner Gedanken wieder auf. Zweites musikalisches IntermezzoOrgelklänge und Gesang, die aus einer Kirche zu ihm dringen, veranlassen ihn zum Besuch der Frühmesse (S. 37 f.). Vielleicht kann ihn die Religion wieder zu Sinnen bringen und Trost spenden: »Möcht’ in die Kirche hineingehn … am End’ ist doch was dran« (S. 38). Die Musik erinnert ihn dann jedoch an die Ereignisse des vergangenen Abends, und so verlässt er fluchtartig die Kirche: »Woran erinnert mich denn nur die Melodie? – Heiliger Himmel! gestern Abend! – Fort, fort! das halt’ ich gar nicht aus!« (S. 38)
Bevor er nach Hause geht, um seinen Entschluss, sich zu töten, wahr zu machen, kehrt er aber in einem Kaffeehaus ein und erfährt dort, dass der Bäckermeister HabetswallnerBäckermeister Habetswallner in der vergangenen Nacht einem Schlaganfall erlegen ist. Gustl sieht sich erlöst: »Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist g’schehn! – Und das Mordsglück, dass ich in das Kaffeehaus gegangen bin … sonst hätt’ ich mich ja ganz umsonst erschossen« (S. 44). Der Leutnant vermutet, der plötzliche Tod des Bäckermeisters könne »eine Fügung des Schicksals« (S. 44 f.) oder göttlichen Ursprungs sein: »Am End’ ist das alles, weil ich in der Kirchen g’wesen bin …« (S. 44).
Euphorisch schmiedet er nun Pläne für den angebrochenen Tag. Seinem für vier Uhr am Nachmittag anberaumten Duell mit dem Rechtsanwalt sieht er mit grimmiger Entschlossenheit entgegen: »… na wart’, mein Lieber, wart’, mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt … Dich hau’ ich zu Krenfleisch!« (S. 45)
3. Figuren
Abb. 3: Figurenkonstellation
Die Erzählform des inneren Monologs bedingt, dass auch die weiteren Figuren in der Novelle ausschließlich aus Gustls Perspektive dargestellt werden, ohne dass ein objektiver Erzähler diese knappen Figurencharakterisierungen korrigieren oder erweitern könnte. Lediglich knappe Passagen wörtlicher Rede ermöglichen es den Lesern, Eindrücke von Figuren zu gewinnen, die nicht durch Gustls Perspektive gefärbt sind
Leutnant Gustl
Indem die Leser Gustls Gedankenstrom folgen, erschließen sich ihnen Persönlichkeit und gesellschaftliche Wirklichkeit dieses jungen Offiziers der k. u. k. Armee, der in dieser Nacht eine existenzielle Krise durchlebt, am nächsten Tag jedoch sein Leben fortsetzen wird, als sei nichts geschehen.
Arthur Schnitzler nennt den Vornamen des Protagonisten schon im Titel der Novelle und macht damit deutlich, welchen hohen Stellenwert diese Hauptfigur einnimmt. Gleichzeitig wertet der Autor damit von vornherein den Infanterie-Leutnant ab: Die Leser erfahren nur seinen verniedlichenden Gustl = KosenameKosenamen, eben »Gustl«; sein richtiger Vorname lautet vermutlich entweder Gustav oder August.
Leutnant Gustl stammt eventuell aus Kleinbürgerliche Verhältnisse?kleinbürgerlichen Verhältnissen:
»Über die soziale Herkunft Gustls herrscht in der Forschungsliteratur Uneinigkeit. Zum Teil wird die Position vertreten, der Protagonist stamme aus dem Kleinbürgertum […]. Zuweilen wird auch der familiäre Hintergrund einer ›höheren Grazer Beamtenfamilie‹ […] konstatiert. Exakt bestimmen lässt sich die soziale Herkunft des Protagonisten letztlich nicht, da der Text dafür keine genügend präzisen Informationen vergibt«.2
Seine Familie lebt in Graz in der Steiermark. Im Verlauf der Novelle erinnert sich Gustl an wichtige Wichtige LebensstationenStationen seines Lebens, das bereits einige Kränkungen für ihn bereithielt: Sein Vater, ein Beamter, wurde vorzeitig pensioniert, weshalb Gustl das Gymnasium verlassen musste. Wohl aus finanzieller Not – vielleicht aber auch, weil er den Anforderungen nicht gewachsen war – wurde der Junge »in die Kadettenschul’ gesteckt« (S. 12), die ihm immerhin einen bescheidenen Status als Infanterie-Offizier gewährleistet. Hätte der Junge sein Abitur machen können, wäre sein Ziel ein Studium gewesen: »Ich hätt’ Ökonomie studiert, wär’ zum Onkel gegangen … sie haben’s ja alle wollen, wie ich noch ein Bub war …« (S. 28). Gustl hat also seine bescheidene militärische Laufbahn alles andere als freiwillig absolviert oder gar aus einer patriotischen Gesinnung heraus. Obendrein blieb ihm der Weg in die prestigeträchtige Kavallerie verwehrt, weil er sich kein Pferd leisten konnte und sein Vater ihn nicht unterstützen wollte: »Schad’, dass ich nicht zur Kavallerie gegangen bin … aber das hat der Alte nicht wollen – wär’ ein zu teurer Spaß gewesen« (S. 30).
Abb. 4: Lukas Watzl als Leutnant Gustl in der virtuellen Theatererfahrung Inside Lieutenant Gustl (Regie/Bearbeitung: Sebastian Brauneis) – © Studio Brauneis / Poesie Media
Diese Demütigungen sind auch mitverantwortlich für seinen Gustls SozialneidSozialneid gegenüber Vermögenden, Gebildeten und Juden. So sind ihm die »Einjährigen« (S. 22), die aufgrund ihrer höheren Schulbildung nur ein statt drei Jahre zu dienen haben, ein Dorn im Auge, weil sie seine Statusangst schüren. Die Einjährig-Freiwilligen, die am Ende ihres Wehrdienstes Reserveoffiziere sind, genießen die gleichen Privilegien wie die Berufsoffiziere: »Wir müssen uns jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir … es ist eine Ungerechtigkeit!« (S. 22)
Trotzdem ist das Sinnstifter