Zukunft verpasst?. Thomas Middelhoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Middelhoff
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863348311
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einzurichten. Grundsätzlich betrachtet ein hervorragender und richtiger Ansatz, auch aus unserer heutigen Sicht.

      1971 gegründet, entwickelte sich die NASDAQ ab Mitte der 90er-Jahre mit beeindruckendem Tempo. Die 1.000-Punkte-Marke wurde am 17. Juli 1995 erreicht, die 2.000-Punkte-Marke am 16. Juli 1998, und am 10. März 2000 beendete die NASDAQ den Handel mit einem Allzeithoch von 5.048,62 Punkten. Das entspricht einer Steigerung seit ihrem Start von 4.948,6 Punkten.

      Seit Bestehen der NASDAQ werden dort bis heute die Aktien „echter“ Technologiefirmen eingeführt und gehandelt, unter anderem Microsoft, Amazon, Apple, Facebook oder Google. Am 12. Juni 2020 sind schon zwei dieser fünf Firmen zusammen in ihrer Börsenkapitalisierung größer als der gesamte deutsche Prime Index DAX, MDAX und TecDax zusammen, und Amazon allein ist mehr wert als der gesamte DAX. Zudem sind chinesische und amerikanische Firmen heute deutlich stärker kapitalisiert als deutsche. Nichts verdeutlicht Deutschlands Dilemma mehr als diese Zahlen.

      Abbildung 7: Marktkapitalisierung der führenden amerikanischen Technologiekonzerne im Vergleich mit dem DAX.

      Neben der New York Stock Exchange (NYSE) wurde die NASDAQ zum führenden Börsenplatz in den USA, an dem heute über 3.000 Unternehmen gelistet sind, überwiegend solche, die dem Technologiesektor zuzurechnen sind.

      Die starken Kursgewinne an der NASDAQ eröffneten nicht nur für Anleger attraktive Gewinnchancen, sondern zogen international zunehmend Kapital in Richtung des Finanzplatzes New York ab. Das konnte aus deutscher Sicht nicht im Interesse des Börsenplatzes Frankfurt sein. Die Forderung, einen eigenen Technologiesektor an der Börse nach US-amerikanischem Vorbild einzuführen, als Versuch, eine weitere Kapitalabwanderung zu verhindern (verbunden mit dem damaligen Umstand, dass deutsche Unternehmensgründer anders als in den USA kein ausreichendes Startkapital fanden), wurde ab Mitte der 1990er-Jahre auch von der Politik aufgegriffen und fand sogar den Weg in die Wahlprogramme der Volksparteien.

      Euphorie breitete sich aus und erfasste auch uns. Dem Unternehmergeist von Gründern, die bisher oftmals für ihre risikobehafteten Projekte keine Finanzierung erhalten hatten, stand das Interesse der Anleger gegenüber, Technologiewerte zu finden, die hohe Renditen versprachen. Sie suchten in der Heimat nach ähnlichen Renditen, wie die NASDAQ sie bot. Und das Bemühen der Investmentbanker, Berater etc., neue einträgliche Einnahmequellen zu finden, war mindestens so groß wie die Gier der Anleger. Dies sollte sich auf die Entwicklung technologiebasierter digitaler Geschäftsmodelle fatal auswirken.

      Warum?

      1997 wurde der Neue Markt als ein Segment der Deutschen Börse eingerichtet. Zwar sollte er nach dem Verständnis seiner Gründungsväter als Technologiesektor seinem amerikanischen Pendant entsprechen. Aber schon bei der Namensgebung wurde deutlich, was von den Initiatoren gewollt war: Das Branchenkriterium der an der neuen deutschen Technologiebörse zu handelnden Unternehmen sollte möglichst weit ausgelegt werden, um möglichst viele Unternehmen und Anleger anzusprechen.

      So redete man im Zusammenhang mit dem Neuen Markt auch gern von Unternehmen der „New Economy“, wobei allerdings diffus blieb, was man unter diesem Begriff zu verstehen hatte. Den Begriff „Technologieunternehmen“ kann man im Zweifel validieren, unter den Terminus „New Economy“ hingegen konnte so ziemlich alles subsumiert werden.

      Die Zielsetzungen, die ursprünglich mit dem Neuen Markt verbunden wurden, waren ohne Frage für die Zukunftssicherung unseres Landes genau die richtigen. Als Konsequenz brachte der Neue Markt in seiner Anfangsphase Unternehmen hervor, die bis heute als bedeutende Technologieunternehmen operieren. Zu ihnen zählen T-Online, Software AG, Evotec, Freenet, Medigen, Mobil.com, Singulus, United Internet etc. Diese Entwicklung war ohne Frage ein Verdienst der Initiatoren des Neuen Marktes, und dieser befand sich zunächst auf einem guten Weg.

      Die von Conny gegründete ACG, ein Unternehmen, das auf Chipkarten spezialisiert war, hatte ihren IPO im Juni 1999. Der Peak der Marktkapitalisierung lag bei über 2,0 Milliarden Euro und einem Umsatz von 300 Millionen Euro. So wurde die ACG schnell Mitglied im Premiumsegment des Neuen Markts, DMAX 50. Ob Glück, Fortune oder Intention: Conny verkaufte den Großteil seiner Anteile an der ACG im März 2000, nur wenige Tage vor dem Zusammenbruch des Neuen Marktes. Einen Großteil der Erlöse reinvestierte er bis heute weltweit in über 350 Start-ups. Als Conny feststellte, dass „ACG an der Börse fast genauso hoch bewertet wurde wie Porsche“, gab es für ihn nur einen Erklärungsansatz: „Am Neuen Markt läuft etwas fundamental schief.“

      Die Erklärung hierfür war eigentlich denkbar einfach: Neben den Technologiefirmen waren am Neuen Markt später mehr und mehr Unternehmen aufgetreten, die dort zwar ein Listing anstrebten, tatsächlich aber keinen wirklichen Technologiebezug hatten. Vielmehr suchten Unternehmen beispielsweise aus der Film- und TV-Branche durch ein Listing am Neuen Markt nach billigen oder zusätzlichen Finanzierungsquellen. Mit dem an der Börse eingesammelten Geld sollte in diesen Fällen eben nicht die Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle vorangetrieben, sondern die Finanzierung gesichert werden für die Übernahme von Filmrechten oder anderen Unternehmen. Die EM-TV AG mag hierfür ebenso als Beispiel stehen, wie Edel Music, Senator oder Kinowelt. Der Neue Markt war von Spekulanten, die eigentlich wenig mit digitaler Technologie zu tun hatten, gekapert worden.

      So konnte es geschehen, dass beispielsweise auch die Refugium AG, ein Altenheimbetreiber, über Nacht zu einer „Technologiefirma“ wurde. Sie und andere erreichten nicht nur ihr Listing, sondern Höchstbewertungen an der deutschen Technologiebörse „Neuer Markt“.

      Während in den USA an der NASDAQ bis heute ein klarer Technologiebezug im Vordergrund steht, der auch beim Filing für einen IPO detailliert nachzuweisen ist, interessierten sich in Deutschland weder die Banken noch die Anwaltskanzleien, weder die Beratungsunternehmen noch die Börsenaufsicht für die einfache Frage, ob wirklich Technologieunternehmen mit einem tragfähigen Geschäftsmodell an die Börse gebracht werden sollten. Von der Bilanzqualität der einzelnen IPO-Kandidaten ganz zu schweigen. Das Börsenfieber hatte jeden gepackt. Wir erinnern uns an eine Zeit, als die Taxifahrer uns nicht nach dem Zielort unserer Reise fragten, sondern danach, in welche der anstehenden Börsengänge sie als Privatpersonen investieren sollten.

      Gier macht bekanntlich dumm. Und viele Teilnehmer des Neuen Marktes verhielten sich aus schierer Gier zunehmend kurzsichtig und dumm: die Anleger, die ohne ausreichende Prüfung bereit waren, viel Geld in Euphorie zu investieren; die Deutsche Börse, die ihren Aufgaben der Prüfung und Regulierung nicht ausreichend nachkam, nur um international im Wettbewerb bestehen zu können; die Unternehmen, die glaubten, mit Fiktion statt Fakten problemlos und dauerhaft Geld einsammeln zu können; die Kriminellen, die ihre Bilanzen fälschten und über Presse- und Ad-hoc-Meldungen das Geld der Investoren lockermachten – und dann verzockten. Und last but not least die Politiker, die sich in dem Gefühl sonnten, mit dem Börsenerfolg der vermeintlichen „New Economy“ internationale Anerkennung und Wählerstimmen zu bekommen.

      Sie alle – und auch wir – sind mitverantwortlich für das, was dem vorhersehbaren Crash nach dem Höchststand des Nemax am 10. März 2000 folgte. Der Nemax verlor bis zum 9. Oktober 2002 96 Prozent seines Wertes, was einer Summe von ca. 200 Milliarden Euro entspricht. Auf den Wertverlust folgte ein dramatischer Vertrauensverlust. Und aus heutiger Sicht ist dieser für die zukünftige Wettbewerbskraft unseres Landes eine größere Hypothek als die damalige – in ihrer Konsequenz übertriebene – Wertkorrektur.

      Die Öffentlichkeit setzte in Unkenntnis der wirklichen Gründe dieses Börsen-Desasters die „New Economy“ mit Technologie und Digitalisierung gleich. Ab sofort waren neue Technologien suspekt. Die Akteure, die vorher den Neuen Markt gepusht und dort in den guten Tagen viel Geld verdient hatten, drehten sich über Nacht um 180 Grad. Technologie wurde verteufelt und mit Spekulantentum gleichgesetzt, und die am Neuen Markt gelisteten seriösen Technologiefirmen bekamen nach dessen Zusammenbruch durch das Treiben einzelner Scharlatane erhebliche Probleme.

      In seinem großartigen