Nebel im Aargau. Ina Haller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ina Haller
Издательство: Bookwire
Серия: Kantonspolizei Aargau
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960416623
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durch den Wintermantel drang.

      Viele hatten sich bei dem Wetter nicht vor die Tür gewagt. Es kamen ihnen nur zwei Jogger und ein Mann mit einem Schäferhund entgegen. Nach zehn Minuten erreichten sie die Anlegestelle «Seengen» von der Schifffahrt Hallwilersee. In der wärmeren Jahreszeit konnte man von hier zu Rundfahrten auf dem See starten. Als Nächstes gelangten sie zur Frauenbadi. Daneben lag die Männerbadi.

      Hin und wieder war Andrina in dieser öffentlichen kostenlosen Seebadi geschwommen. Bei der Kälte heute schauderte ihr nur beim Gedanken, einen Fuss ins Wasser zu setzen. Sie gingen an dem einfachen roten Holzgebäude vorbei, in dem sich Umkleidekabinen, WCs und Duschen befanden, und traten an die Holztreppe. Sogar das Wasser sah bei diesem Wetter grau aus, und die Seerosen, die am Ufer wuchsen, schafften es nicht, der Szene einen Farbtupfer zu verleihen. Immerhin waren sie hier ein wenig vor dem Wind geschützt, der die Temperatur mindestens um zwei Grad tiefer empfinden liess, als sie war. Zwei Blesshühner schwammen vorbei, und ein Schwan näherte sich ihnen.

      «Ich denke, das reicht heute mit frischer Luft», sagte Enrico, und sein Atem stand in einer weissen Wolke vor seinem Mund.

      Dem musste Andrina zustimmen, und sie war froh über den Vorschlag.

      «Gehen wir zurück?», fragte er. «Mir ist kalt.»

      Andrina wandte sich ihm zu. Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgestellt und mit dem Schal das Kinn abgedeckt. Die Kappe hatte er tief in die Stirn gezogen. Er fror eindeutig mehr als sie. «Manchmal bin ich froh, dass du ein wärmeverwöhnter Süditaliener bist.»

      In Enricos Augen blitzte es, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. «Ich lebe gerne in der Schweiz, aber es gibt Dinge, die nicht unbedingt sein müssten. Dazu gehört dieses nasskalte Dauergrau im Winter.»

      Bevor Andrina antworten konnte, ertönte ein lang gezogener Schrei. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie einander an, bevor Enrico zum Ausgang der Badi rannte.

      Andrina hastete hinter ihm her. Als sie vor die Badi trat, kam ihnen eine Frau entgegen, die wild mit einer Hand fuchtelte und einen Collie hinter sich herzog.

      «Da liegt einer», stiess sie atemlos hervor, als sie bei ihnen angekommen war.

      «Wo?», fragte Enrico.

      «Er bewegt sich nicht.»

      «Wo liegt wer?»

      «Ein Mann … ich glaube, es ist ein Mann.»

      «Wo?», wiederholte Enrico mit Nachdruck.

      «Dort bei dem Pfahlbauhaus.» Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war.

      «Wo ist er?», fragte Enrico, als sie beim Nachbau eines Pfahlbauhauses ankamen. Andrina sah sich um. Ausser Schilf, Bäumen und Wiese sah sie nichts.

      «Da drin.» Die Frau deutete auf den niedrigen, kleinen Eingang. Andrina beugte sich vor, konnte aber nichts erkennen. Ausser dass es in der Rückwand ein Loch hatte, das den Blick auf die sumpfige Wiese freigab.

      «Er liegt an der Wand auf der linken Seite.» Inzwischen hatte die sich überschlagende Stimme zu einem Flüstern gewechselt, das Andrina kaum verstehen konnte.

      Enrico bückte sich und schlüpfte ins Innere. Er wandte sich nach links. Neben Andrina trat die Frau von einem Bein auf das andere und schimpfte mit ihrem Hund, der Enrico offenbar gerne gefolgt wäre. Den Collie interessierte die Tirade nicht, und er zog weiter an der Leine. Dabei wedelte er mit dem Schwanz.

      «Er hat ihn gefunden», sagte die Frau, die wieder so leise sprach, dass Andrina sie fast nicht verstand. «Er lief weg und hat nicht auf mich gehört. Zuerst wusste ich nicht, wo er war, bis er anfing, laut zu bellen.» Sie sprach hastiger. «Als er nicht da rauskommen wollte, bin ich rein und habe den …»

      Sie brach ab, als Enricos Kopf im Eingang auftauchte. Er kroch aus dem Haus, richtete sich auf und klopfte die Erde von der Hose.

      «Er ist tot», sagte er. «Wir sollten die Polizei verständigen.»

      Andrina verschränkte die Hände ineinander und starrte geradeaus. Sie sass in einem der Polizeiwagen, die auf dem Kiesplatz vor dem Schloss Hallwyl standen. Es war kalt im Wagen, und sie hätte zu gerne die Wagentür geschlossen, damit die Bise nicht durch das Wageninnere zog, aber sie wagte es nicht. Sie wagte überhaupt nicht, sich zu rühren, und konnte nicht sagen, wie lange sie bereits im Wagen sass und wartete. Sie betrachtete die Frontkonsole und überlegte, ob der Wagen eine Standheizung hatte. Falls das so war, hätte man sie bestimmt eingeschaltet.

      Andrina war die Einzige, die sich in einem der Autos befand. Vermutlich hatte man ihr aufgrund der inzwischen nicht mehr zu übersehenden Schwangerschaft zugestanden, sich zu setzen.

      Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Beamte liefen zum See oder kehrten zurück. Vor einiger Zeit war ihnen ein Mann mit einem silbrigen Koffer in die Richtung des Pfahlbauhauses gefolgt. Andrina meinte, den Rechtsmediziner erkannt zu haben, dem sie ein- oder zweimal begegnet war, als sie mit Enricos Halbbruder Marco Feller, dem Leiter der Abteilung Leib und Leben, zusammen gewesen war. Marco war zu ihrem Bedauern ebenfalls vor Ort.

      Sie legte die Hand auf den Bauch. Ihr Baby rührte sich nicht. Bestimmt spürte es ihre Anspannung.

      Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Bald würde der graue Tag von der dunklen Nacht überschattet werden. Zur jetzigen Jahreszeit fand Andrina es eine Erleichterung, wenn es dunkel wurde. In der Nacht musste sie dieses Dauergrau nicht mehr sehen. Heute jedoch fürchtete sie sich davor. In der Dunkelheit würde es keine Ablenkung geben. Genau diese Ablenkung suchte Andrina und schaute sich um. Niemand nahm Notiz von ihr, und sie fragte sich, ob man sie vergessen hatte.

      Sie blickte zur Mauer und zum Wassergraben, der das Schloss umgab. In der Nähe der Grabsteine stand Enrico mit Max Wagner aus Marco Fellers Team. Sie konnte die Männer aus dieser Distanz fast nicht erkennen. Wagner machte Notizen und stellte offenbar eine Frage nach der anderen. Enrico schien regelrecht damit bombardiert zu werden. Sogar aus der Entfernung konnte Andrina trotz schwindenden Lichts Enricos Anspannung erkennen, obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand.

      Der Wind nahm weiter zu. Andrina verschränkte die Arme vor der Brust. Viel Schutz gab es nicht.

      Die Frau, die die Leiche zuerst entdeckt hatte, stand an der Mauer zum Schlossgraben und wurde von Marco befragt. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen. Ihr Collie sass brav neben ihr.

      Zwei Männer in weissen Schutzanzügen kehrten vom See zurück. Sie waren in eine Diskussion vertieft und gingen zu einem Kastenwagen, der in der Nähe des Eingangs vom Schloss stand.

      Neben dem Wagen nahm Andrina eine Bewegung wahr und brauchte einen Augenblick, bis sie den Beamten erkannte. Silvan Brogli stieg neben ihr ein und liess sich auf die Rückbank fallen. Ausgerechnet er. Zu deutlich erinnerte Andrina sich an seine Vernehmungen in der Vergangenheit, die alles andere als angenehm gewesen waren. Immer wieder hatte er sie bei früheren Fällen als Tatverdächtige ins Auge gefasst.

      «So schnell sieht man sich wieder», sagte er anstelle einer Begrüssung.

      Andrina liess den Tonfall auf sich wirken, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Sarkasmus in ihm mitschwang. Sie überlegte, ob sie darauf eingehen sollte, schwieg aber lieber.

      «Leider ist der Umstand unseres Wiedersehens nicht erfreulich.»

      Dieses Mal war sie sich sicher. Keine Anspielung schwang zwischen den Zeilen mit, und Andrina wandte sich ihm erstaunt zu. Brogli hielt eine Thermoskanne und einen Styroporbecher hoch. «Möchten Sie einen heissen Tee?»

      Andrina war zu erstaunt, um sofort zu antworten. Die menschlichen Züge an diesem Mann waren fremd. «Das wäre nett», brachte sie nach einigen Sekunden hervor.

      «Es tut mir leid, wenn Sie warten mussten.» Brogli füllte Tee in den Becher, den er Andrina reichte. Sie schnupperte. Kräutertee.

      «Danke.»

      Vorsichtig nippte sie an dem heissen Getränk. Wärme breitete sich über die Speiseröhre Richtung Magen aus. Von dort strahlte