»Nein«, sagte Emil, »ich beobachte einen Dieb.«
»Was? Ich verstehe fortwährend: Dieb«, meinte der andre Junge, »wen hat er denn beklaut?«
»Mich!«, sagte Emil und war direkt stolz darauf. »In der Eisenbahn. Während ich schlief. Hundertvierzig Mark. Die sollte ich meiner Großmutter hier in Berlin geben. Dann ist er in ein andres Coupé geturnt und am Bahnhof Zoo ausgestiegen. Ich natürlich hinterher, kannst du dir denken. Dann auf die Straßenbahn. Und jetzt sitzt er drüben im Café, mit seinem steifen Hut, und ist guter Laune.«
»Na Mensch, das ist ja großartig!«, rief der Junge. »Das ist ja wie im Kino! Was willst du nun anstellen?«
»Keine Ahnung. Immer hinterher. Weiter weiß ich vorderhand nichts.«
»Sag’s doch dem Schupo dort. Der nimmt ihn hopp.«
»Ich mag nicht. Ich habe bei uns in Neustadt was ausgefressen. Da sind sie nun vielleicht scharf auf mich. Und wenn ich …«
»Verstehe, Mensch!«
»Und am Bahnhof Friedrichstraße wartet meine Großmutter.«
Der Junge mit der Hupe dachte ein Weilchen nach. Dann sagte er: »Also, ich finde die Sache mit dem Dieb knorke. Ganz große Klasse, Ehrenwort! Und, Mensch, wenn du nischt dagegen hast, helfe ich dir.«
»Da wär ich dir kolossal dankbar!«
»Quatsch nicht, Krause! Das ist doch klar, dass ich hier mitmache. Ich heiße Gustav.«
»Und ich Emil.«
Sie gaben sich die Hand und gefielen einander ausgezeichnet.
»Nun aber los«, sagte Gustav, »wenn wir hier nichts weiter machen als rumstehen, geht uns der Schuft durch die Lappen. Hast du noch etwas Geld?«
»Keinen Sechser.«
Gustav hupte leise, um sein Denken anzuregen. Es half nichts.
»Wie wäre denn das«, fragte Emil, »wenn du noch ein paar Freunde herholtest?«
»Mensch, die Idee ist hervorragend!«, rief Gustav begeistert. »Das mach ich! Ich brauch bloß mal durch die Höfe zu sausen und zu hupen, gleich ist der Laden voll.«
»Tu das mal!«, riet Emil. »Aber komme bald wieder. Sonst läuft der Kerl da drüben weg. Und da muss ich selbstverständlich hinterher. Und wenn du wiederkommst, bin ich über alle Berge.«
»Klar, Mensch! Ich mache schnell! Verlass dich drauf. Übrigens isst der Mausehaken im Café Josty drüben Eier im Glas und solche Sachen. Der bleibt noch ’ne Weile. Also, Wiedersehen, Emil! Mensch, ich freu mich noch halb dämlich. Das wird eine tolle Kiste!« Und damit fegte er fort.
Emil fühlte sich wunderbar erleichtert. Denn Pech bleibt nun zwar auf alle Fälle Pech. Aber ein paar Kameraden zu haben, die freiwillig mit von der Partie sind, das ist kein kleiner Trost.
Er behielt den Dieb scharf im Auge, der sich’s – wahrscheinlich noch dazu von Mutters Erspartem – gut schmecken ließ, und hatte nur eine Angst: dass der Lump dort aufstehen und fortlaufen könne. Dann waren Gustav und die Hupe und alles umsonst.
Aber Herr Grundeis tat ihm den Gefallen und blieb. Wenn er freilich von der Verschwörung etwas geahnt hätte, die sich über ihm wie ein Sack zusammenzog, dann hätte er sich mindestens ein Flugzeug bestellt. Denn nun wurde die Sache langsam brenzlich …
Zehn Minuten später hörte Emil die Hupe wieder. Er drehte sich um und sah, wie mindestens zwei Dutzend Jungen, Gustav allen voran, die Trautenaustraße heraufmarschiert kamen.
»Das Ganze halt! Na, was sagst du nun?«, fragte Gustav und strahlte übers ganze Gesicht.
»Ich bin gerührt«, sagte Emil und stieß Gustav vor Wonne in die Seite.
»Also, meine Herrschaften! Das hier ist Emil aus Neustadt. Das andre hab ich euch schon erzählt. Dort drüben sitzt der Schweinehund, der ihm das Geld geklaut hat. Der rechts an der Kante, mit der schwarzen Melone auf dem Dach. Wenn wir den Bruder entwischen lassen, nennen wir uns alle von morgen ab nur noch Moritz. Verstanden?«
»Aber Gustav, den kriegen wir doch!«, sagte ein Junge mit einer Hornbrille.
»Das ist der Professor«, erläuterte Gustav. Und Emil gab ihm die Hand.
Dann wurde ihm, der Reihe nach, die ganze Bande vorgestellt.
»So«, sagte der Professor, »nun wollen wir mal auf den Akzelerator treten. Los! Erstens, Geld her!«
Jeder gab, was er besaß. Die Münzen fielen in Emils Mütze. Sogar ein Markstück war dabei. Es stammte von einem sehr kleinen Jungen, der Dienstag hieß. Er sprang vor Freude von einem Bein aufs andre und durfte das Geld zählen.
»Unser Kapital beträgt«, berichtete er den gespannten Zuhörern, »fünf Mark und siebzig Pfennige. Das Beste wird sein, wir verteilen das Geld an drei Leute. Für den Fall, dass wir uns mal trennen müssen.«
»Sehr gut«, sagte der Professor. Er und Emil kriegten je zwei Mark. Gustav bekam eine Mark und siebzig.
»Habt vielen Dank«, sagte Emil, »wenn wir ihn haben, geb ich euch das Geld wieder. Was machen wir nun? Am liebsten würde ich erst mal meinen Koffer und die Blumen irgendwo unterbringen. Denn wenn die Rennerei losgeht, ist mir das Zeug mächtig im Wege.«
»Mensch, gib den Kram her«, meinte Gustav. »Den bring ich gleich rüber ins Café Josty, geb ihn am Büfett ab und beschnuppre bei der Gelegenheit mal den Herrn Dieb.«
»Aber mache es geschickt«, riet der Professor. »Der Halunke braucht nicht zu merken, dass ihm Detektive auf der Spur sind. Denn das würde die Verfolgung erschweren.«
»Hältst du mich für dusslig?«, knurrte Gustav und schob ab …
»Ein feines Fotografiergesicht hat der Herr«, sagte er, als er zurückkam. »Und die Sachen sind gut aufgehoben. Die können wir holen, wenn’s uns passt.«
»Jetzt wäre es gut«, schlug Emil vor, »wenn wir einen Kriegsrat abhielten. Aber nicht hier. Das fällt zu sehr auf.«
»Wir gehen nach dem Nikolsburger Platz«, riet der Professor. »Zwei von uns bleiben hier am Zeitungskiosk und passen auf, dass der Kerl nicht durchbrennt. Fünf oder sechs stellen wir als Stafetten auf, die sofort die Nachricht durchgeben, wenn’s so weit ist. Dann kommen wir im Dauerlauf zurück.«
»Lass mich nur machen, Mensch!«, rief Gustav und begann, den Nachrichtendienst zu organisieren. »Ich bleibe mit hier bei den Vorposten«, sagte er zu Emil, »mach dir keine Sorgen! Wir lassen ihn nicht fort. Und beeilt euch ein bisschen. Es ist schon ein paar Minuten nach sieben. So, und nun haut gefälligst ab!«
Er stellte die Stafetten auf. Und die anderen zogen, mit Emil und dem Professor an der Spitze, zum Nikolsburger Platz.
An Walter Trier
München, den 12.6.50
Lieber Walter Trier,
es klingt zwar unglaublich, dass Sie 60 Jahre alt werden; aber was hilft’s? Man muss sich mit diesem absurden Gedanken vertraut machen und die Konsequenz daraus ziehen, d.h. Ihnen von ganzem Herzen gratulieren.
Wenn ich mir überlege, wie lange wir uns schon kennen und wie manche gemeinsame Arbeit wir zu Erfolgen geführt haben, so bin ich immer wieder erstaunt, wenn ich mir nachzurechnen versuche, wie wenig und wie selten wir beide eigentlich beisammen waren. Ein paar Mal bei Edith Jacobsohn, ein paar Mal in Lichterfelde bei Ihnen in dem hübschen Haus, ein paar Mal in Salzburg und einmal in London. Wollte man die Stunden und Tage zusammenrechnen, so kämen, sich über mehr als 20 Jahr erstreckende, kaum vier Wochen heraus.
Aber da sieht man wieder, wie wenig es auf die sogenannte »objektive« Zeit ankommt und wie entscheidend deren Gegenteil ist, nämlich das Gemeinsame, die trotz aller Verschiedenheit zusammenklingenden Charaktere und deren Resultat: die Sympathie.
Weiß