Sommer 2020 Sylvia List
Die alte Freundschaft und die kleinen Erinnerungen
Für Kesten zum 60. Geburtstage
Lieber Hermann,
wie kommt Freundschaft zustande? Da lernen einander, bei der Witwe Siegfried Jacobsohns, ein Glas in der Hand, zwei junge Schriftsteller sich kennen, lächeln einander zu und fragen sich im Stillen und verwundert: »Wieso denn erst heute?« Schon das Sichkennenlernen ist eine Wiederbegegnung. Doch woran mag es liegen? An den Gemeinschaften ihres Wesens? An den Zügen, darin sie sich unterscheiden? An der »richtigen« ungleichen Mischung von Gleichem und Ungleichem? Das schmeckt nach angewandter Mathematik. Es riecht nach Kolloidchemie. Lassen wir’s, trotz unser beider Spott über die falschen Magier und windigen Geheimnistuer, dabei bewenden, dass der Ursprung der Freundschaft zu den schönen Geheimnissen zählte.
Wodurch Freundschaft, nach ihrer Geburt, weiterlebt, ist kein Geheimnis. Sie nährt sich von gemeinsamen Erlebnissen. Sie bleibt gesund und wächst durch gemeinsame Erinnerungen, deren Vorrat, wie beim Topf im Märchen, trotz allen Zuspruchs unaufzehrbar bleibt.
Lieber Hermann, die Weltgeschichte war uns beim Einheimsen solch gemeinsamer Erinnerungen viele Jahre finster und fatal im Wege. Gleichwohl ist es um den Märchentopf nicht schlecht bestellt, und wir werden uns, damit er nicht überläuft, bald einen größeren zulegen müssen.
Am liebsten hab ich, als Topfgucker, die kleinen Erinnerungen. Sie gleichen alten Momentaufnahmen, sechs mal neun, kurz belichtet, ein wenig unscharf und etwas verwackelt, wie man sie in Schubladen wiederfindet, hervorkramt und nachdenklich betrachtet. Da schmelzen die Jahre und Jahrzehnte wie Schnee in der Sonne. Da wird das Längstvergangene mit einem Zauberschlage Gegenwart, und alles Spätere wird Zukunft, freilich eine andere Zukunft als die von damals, wird zur Zukunft, die wir kennen! Das Nacheinander gruppiert sich zum Nebeneinander. Das Damals wird zum Jetzt, und das Danach ist unverhüllt. Ein seltsames Spiel. Der Fluss, worin alles fließt, hält behext inne …
… und wir stehen beide, Hand in Hand wie Hänsel und Gretel, in einem Redaktionszimmer des Berliner Tageblatts vor Fritz Engel, den wir, in parodierter Weh- und Demut, inständig darum bitten, seinem Rezensenten X. und dem Doktor Engel selber mitzuteilen, dass wir, obzwar jung und trotz ähnlich klingender Familiennamen, schon jetzt eigenwillig genug seien, Ihre Novellen unter dem Namen Kesten und meine Gedichte unterm Namen Kästner herauszubringen. Verwechslungen und daran anknüpfende Werturteile müssten in der künftigen Literaturgeschichtsschreibung merkliche Verwirrung stiften, und das könne doch eine Zeitung von Format unmöglich wollen …
… oder ich besuche Sie, während eines Umzugs, in der neuen Wohnung, wo die Toni und Ihre Mama und Ihre Schwester mit den Möbelräumern Schränke, Betten und Tische rücken und schieben. Ich frage Sie, der als Feldherr zuschaut, nach dem strategischen Sinne der Schlacht. »War die frühere Wohnung denn nicht bequemer? Warum muss es denn, so fern vom neuen Westen, die Urbanstraße sein?« »Wegen meines nächsten Romans«, antworten Sie. »Ich brauche die Gegend, weil er hier spielen wird. Ich brauche die Hasenheide, Neukölln und ganz besonders das Kaufhaus am Hermannplatz!« »Dafür genügte doch ein möbliertes Zimmer!« »Nein, ich brauche ja auch meine Familie!«
… oder wir haben Joseph Roth bei Mampe an der Uhlandstraße aufgestöbert. Hier trinkt und schreibt er seit Stunden. Seine Augen sind von Kognak gerötet. Doch die letzte kalligraphische Miniaturseite des Manuskripts sieht genauso gestochen aus wie die erste. Er unterbricht die Arbeit und streicht sich, während wir plaudern, den Schnurrbart. Als noch Kiepenheuer, Landshoff und Landauer kommen, wird der Tisch zu klein, und wir gehen ins Hotel am Zoo. Dort bestellt sich Roth, zu meiner Verblüffung, eine Flasche Angostura! Er trinkt sie, indem wir reden, bis zum letzten Tropfen leer und wirkt, nach wie vor, nüchtern wie ein Temperenzler. Nur die Augen wölben sich vor, und ihr Weiß wird immer röter. Es sind die Augen der unheilbaren Trinker. Später einmal wird er die »Legende vom heiligen Trinker« schreiben und kurz darauf den vorgezeichneten, den gleichen Tod sterben …
… oder wir sitzen eines Sonntagvormittags in einer Parkettloge des Theaters am Schiffbauerdamm. Anlässlich einer Uraufführung. Man spielt ein Stück mit dem Titel »Wohnungsnot oder die heilige Familie«, und der Autor heißt Hermann Kesten. Es wird schlimm und immer schlimmer. Denn Maria Fein, die prachtvolle Heroine, hat ihren Text vergessen, behandelt ihr Lampenfieber, nach jedem Auftritt, in der Garderobe mit Alkohol, offenbar nicht »äußerlich«, und so bahnt sich die Katastrophe der Aufführung lange vor der Katastrophe im Drama an. Umso rascher, als einer der Zuschauer von Szene zu Szene lustiger wird und immer mehr lacht. Mir stehen die Haare zu Berge. Denn der Mann, der lacht, ist mein Nachbar, und dieser Nachbar sind Sie! Als dann gar im Parkett jemand aufspringt, Ihnen droht und empört zuruft: »Haben Sie wenigstens Respekt vor dem Autor!« – da ist es mit Ihnen völlig aus. Wir verlassen fluchtartig das Theater, um den Autor nicht länger zu kränken. Wir sind ja schließlich Kollegen von ihm …
… oder wir treffen einander, ernst und eilig, vorm Café Léon am Lehniner Platz. Zwei Tage nach dem Reichstagsbrand. Ich bin überstürzt aus der Schweiz zurückgekommen. Sie zeigen mir die Fahrkarten nach Paris. »Heute Abend fahren wir!« Und ich sage: »Müssen wir denn nicht bleiben? Wir können doch nicht alle auf und davon!« Diese kleine Erinnerung hat mich oft bis in die Träume verfolgt. Wenn Sie womöglich geblieben wären …
Die kleinen Erinnerungen. Die große Pause. Und nach dem Kriege von neuem: kleine Erinnerungen. An Monteverdis »Dido und Aeneas« im Teatro Olimpico, als Dido die Arie im Munde stecken blieb, weil eine Katze aus Palladios Kulissen zur Rampe kam und mit dem Dirigenten anbändeln wollte …
An die Omnibusreise von Paris nach Nizza, mit der obskuren Übernachtung in Lyon … An den Nachmittag mit Sperber und Breitbach im »Dôme« … An das Glatteis auf der Princess Street in Edinburgh … An die kühle Fahrt auf dem Mauleselkarren durch die lilafarbenen Rhododendrenwälder in Irland … An den Nachmittag in Rom, und Lotte wollte doch unbedingt zuerst zur Spanischen Treppe … An Hamburg, an Freiburg, an Frankfurt, und immer wieder an München … wo wir meinen Sechzigsten gefeiert haben und nun den Ihrigen feiern werden … Auf Ihr Wohl, lieber Hermann! Auf neue Erinnerungen! Und auf die alte Freundschaft!
Mit Erich Ohser in Paris
Vorwort für eine Mappe, 1963
In dieser Mappe hat es mir ein Blatt besonders angetan. Ein Blatt, worauf es vielerlei zu sehen gibt: ein Liebespaar aus dem Quartier Latin, eine Steinvase aus dem 18. Jahrhundert, eine Gouvernante, zwei gesattelte Esel, drei leere Klappstühle, die Wedel einer Fächerpalme, ein paar Vögel auf dem Kiesweg, ein Segelschiffchen im Wasserbecken, einen Jungen am Beckenrand und ein Mädchen, das eine Zeitung schützend über sich hält, weil die Sonne brennt. Man spürt, wie heiß es ist. Man sieht, wie träge sie sind, alle miteinander, die Menschen, die Luft, die Esel und sogar die drei Klappstühle. Sie begönnen zu schwitzen, wenn man sich draufsetzte.
Meine Vorliebe, mein Faible für dieses Blatt hat nichts mit Urteil und Kunstgeschmack zu tun, sondern einzig damit, dass ich, als die Zeichnung entstand, danebensaß. Erich Ohser zeichnete, und Erich Kästner schaute zu. Es war im Jardin du Luxembourg. Im Sommer 1928. Vor nunmehr vierunddreißig Jahren.
Sommer 1928 … Ein Jahr zuvor hatte es uns beide aus Leipzig nach Berlin verschlagen. Damit waren wir, ohne es zu wollen oder auch nur zu ahnen, in die schönste Zeit unseres Lebens hineingestolpert. Und nun trieben wir uns also, mit wenig Geld und großen Augen, für ein paar Wochen in Paris herum. Was kostete die Welt? Sie schien nicht billig zu sein. Aber wir wollten sie ja gar nicht kaufen, sondern nur betrachten! Das allerdings besorgten wir gründlich.
Wir wohnten in einem billigen, kleinen Hotel am Bahnhof St-Lazare, in der Rue d’Edinbourgh. Hier waren die harten Salami- und Cervelatwürste deponiert, die wir aus Berlin mitgeschleppt hatten und über die wir während der knappen Marschpausen hungrig herfielen. Wir lebten wie die Wanderburschen,