Dr. Glossin trat einen Schritt vom Fenster zurück und preßte den Arm des Obersten Cole.
So standen sie und starrten auf das Schauspiel da unten, während das Flugschiff seinen Weg nach Washington verfolgte. Sie sahen die gelähmte Flotte klein und kleiner werden, sahen sie als einen Punkt im unsicheren Licht der wachsenden Dämmerung verschwinden. Sie starrten noch immer auf den Fleck, wo sie verschwand, als längst nichts mehr zu sehen war.
Nach langem Schweigen sprach der Oberst: »Was war das? Habe ich geträumt?«
»Was Sie sahen, war grause Wirklichkeit. Das Wirken der geheimnisvollen Macht, mit der Cyrus Stonard spielen wollte.«
Dr. Glossin sprach. Von Dingen, von denen Oberst Cole bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt hatte. Von der unbekannten Macht. Von ihrer Gewalt. Von ihren Drohungen und Verboten. Von der Unmöglichkeit, sich ihr zu widersetzen. Je weiter der Doktor kam, desto mehr sank der Oberst in sich zusammen. Er sprach während der Fahrt kein Wort mehr und zog sich in Washington schweigend in sein Dienstzimmer zurück.
Um zehn Uhr wurden im Weißen Hause die Wachen des Regiments Howard durch Offiziere und Mannschaften des Regiments Cole abgelöst. Oberst Cole nahm den Bericht seines Wachtoffiziers teilnahmslos entgegen. So blieb er sitzen, bis Glossin, die Uhr in der Hand, zu ihm ins Zimmer trat.
»Herr Oberst, was zeigt Ihre Uhr?«
Langsam, fast schwerfällig zog der Oberst die eigene Uhr. »Zehn Minuten nach zehn.«
Die Uhr in der Hand des Obersten zitterte. Seine Hand vibrierte. Dr. Glossin blickte spöttisch auf den alten Offizier.
»Herr Oberst Cole!« Die Stimme Glossins drang schneidend durch die Stille. Der Oberst sprang auf.
»Ich bin bereit.«
Der Oberst trat auf den Korridor vor der Zimmerflucht des Diktators und führte eine Signalpfeife an den Mund. Noch bevor der letzte Ton verklungen war, strömten von allen Seiten her Mannschaften und Offiziere des Leibregiments Cole herbei und scharten sich um ihren Obersten.
Die beiden Adjutanten des Diktators traten auf den Flur, um den Lärm zu verbieten. Sie erschraken vor dem düsteren Ernst und der Verbissenheit in den Zügen der Soldaten und Offiziere.
»Was soll das, Herr Oberst?«
»Sie sind verhaftet. In Obhut von Major Stanley.«
Widerstandslos beugten sich die beiden Adjutanten der erdrückenden Übermacht. Während sie abgeführt wurden, öffnete Oberst Cole die Tür zum Zimmer des Diktators. Dr. Rockwell trat ihm entgegen.
»Ruhe, meine Herren! Der Präsident bedarf dringend der …«
Der Leibarzt sah die entschlossenen Mienen der Andrängenden und trat schweigend zur Seite. Der Weg war frei. Oberst Cole trat in das Zimmer und schritt langsam auf den großen Schreibtisch zu. Er hatte von der rechten Seite her den Blick auf den Tisch und den Diktator. Cyrus Stonard saß bei der Arbeit, ein Schriftstück in der Hand. Er blieb ruhig sitzen und senkte nur die Hand mit dem Dokument, während ein eigenartiges Lächeln seine hageren Aszetenzüge überflog.
Offiziere und Mannschaften strömten hinter ihrem Oberst in den Raum, bildeten an der Türwand einen Halbkreis. Es wurde so still, daß man das Ticken der kleinen Standuhr bis in den fernsten Winkel vernehmen konnte.
Cyrus Stonard wandte das Haupt halb nach rechts gegen die Eingetretenen.
»Was wünschen die Sieger von Graytown, von Philipsville und Frisko?«
Es waren Schlachtennamen aus dem letzten Japanischen Kriege. Ehrennamen für Oberst Cole und sein Regiment. In diesem Augenblick aus dem Munde des Diktators kommend, wirkten sie lähmend auf die Eingetretenen.
Oberst Cole wich einen Schritt zurück … und noch einen und noch mehrere. Wich zurück vor diesem rätselhaften Ausdruck in Cyrus Stonards Augen. Das war nicht der drohende, faszinierende Blick des Gewaltherrschers, sondern der überlegene, abgeklärte eines Mannes, der alles erkannt und alles als eitel befunden hat.
Oberst Cole wich zurück, bis er Widerstand fühlte. Arme umschlangen ihn. Die flüsternde Stimme, der warme Atem Glossins drangen an sein Ohr. Mit sicher werdenden Schritten trat er wieder auf den Diktator zu.
»Herr Präsident, das Land verlangt Ihren Rücktritt!«
»Das Land?«
»Das Land, Herr Präsident!«
Cyrus Stonard hörte die feste Stimme des Obersten, blickte ihm in die Augen und sah die Wahrheit. Langsam kamen die Worte von seinen Lippen:
»Der Wille des Landes ist für mich das höchste Gesetz … Was habe ich zu tun?«
»Das Land zu verlassen!«
»Wann?«
»Sofort!«
Cyrus Stonard erhob sich mit kurzem Ruck, als gehorche er einem Befehl.
»In wessen Namen handeln Sie?«
»Im Namen aller ihr Vaterland und die Freiheit liebenden amerikanischen Bürger.«
Cyrus Stonard wußte genug. Das war aus dem Programm der Patrioten, die er für harmlos gehalten hatte. Nicht die Roten oder die Weißen, die Patrioten machten seiner Herrschaft ein Ende. Er schaute auf die Versammlung und erblickte, durch die Figur des Obersten halb gedeckt, Dr. Glossin.
»Gehört Herr Dr. Glossin auch zu diesen Bürgern?«
Oberst Cole wich zur Seite, als ob die Nähe Glossins ihm peinlich sei. Der Arzt stand frei vor dem Diktator. Er mußte dessen Blick aushalten, denn die Mauer der Offiziere und Soldaten versperrte ihm den Rückzug. So stand er und wand sich unter den Blicken des Diktators, wurde wechselnd blaß und rot, wäre in diesem Moment gern meilenweit weggewesen.
Cyrus Stonard sah ihn erbärmlich und klein werden, drehte ihm den Rücken und wandte sich Oberst Cole zu.
»Kameraden! Ich verlasse das Land in der Überzeugung, daß es sein Wille ist. In der Hoffnung, daß mein Weggehen zu seinem Heil dient. Was ich erstrebte … das Schicksal hat es anders gewollt. Eine Macht, größer, als ich je geahnt, hat es in Menschenhand gelegt. Ich habe dagegen gekämpft … Als ich den Kampf aufnahm, wußte ich, daß sein Ausgang mein Schicksal bedeutet … Ich bin unterlegen … Wohin soll ich gehen?«
»Wohin Sie wollen, Herr Präsident. Ein Flugschiff steht zu Ihrer Verfügung.«
»… Nach Europa … Nach Nordland. Gehen wir.«
Oberst Cole trat an die Seite des Präsidenten. Auf seinen Wink öffnete sich eine Gasse zur Tür. Still und stumm standen die Offiziere und Mannschaften des Leibregiments und sahen den Mann scheiden, der sie durch zwanzig Jahre zu Ruhm und Ehre geführt hatte.
Oberst Cole wollte vorangehen. Der Diktator ergriff seinen Arm und stützte sich darauf.
»Ich bin müde, alter Freund!«
Der Oberst preßte die Lippen aufeinander. Aus seinen starr blickenden Augen brachen zwei Tränen, die langsam über sein Gesicht herniederrollten.
Eine Viertelstunde später erhob sich ein Regierungsflugzeug vom Dach des Weißen Hauses. Es steuerte in die Nacht. Kurs nach Osten.
Es ist sehr schwer, die Ereignisse der nächsten Augustwochen zu schildern. Am sechsten August hatte die unbekannte Macht die großen Schlachtflotten Englands und der amerikanischen Union gelähmt. Im magnetischen Wirbelsturm war die britische Flotte in den Hafen von Neuyork eingeschleppt worden. Zu der gleichen Stunde, in der die amerikanische Flotte die Themse hinauf bis zu den Docks von London gezogen wurde.
Am siebenten August wurde in den Vereinigten Staaten