Er ließ die Hand vom Strahler. Er begriff, daß der Sieg Atmas über Glossin notwendig war, sollte sein weiteres Leben noch Wert für ihn haben.
Tausendfach waren die Fäden der Leben miteinander verflochten. Das hatte ihn Kuansar in Pankong Tzo gelehrt. Äußere Vorgänge, scheinbare Zufälligkeiten waren oft zuverlässige Zeiger, die das Spiel viel größerer Kräfte dem Sehenden deutlich zeigten. Und nun kam ihm klare Erkenntnis. In dem winzigen Raume dort zwischen Ring und Fingerspitze kam der Kampf zweier Mächte um die Weltherrschaft zum Ausdruck. Jeder Versuch, von seiner Seite einzugreifen, war zwecklos. In diesem Kampfe mußte er ein stiller Zuschauer bleiben, mußte abwarten, wie das Geschick sich erfüllen würde.
Der Kampf ging zu Ende. Dr. Glossin ließ den Ring auf die Tischplatte fallen. Silvester wollte hinzutreten und ihn nehmen. Ein Wink Atmas scheuchte ihn zurück. Der Inder hatte sich erhoben und war dicht an den Tisch herangetreten. Silvester sah, daß er den letzten Rest seiner gewaltigen telepathischen Kraft zusammenraffte, um dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Und nun trat die Wirkung ein. Dr. Glossin wickelte den Ring wieder in das Seidenpapier, verschnürte das Päckchen, erhob sich und trat dicht an Atma heran. Ruhig hielt er ihm das Paketchen hin und sagte mit eintöniger Stimme: »Hier bringe ich den Ring.«
Atma nahm das Paketchen in Empfang und begann es langsam und gemessen wieder aufzumachen. Dr. Glossin war nach der Übergabe an seinen Schreibtisch zurückgegangen. Dort saß er ruhig und schaute wie geistesabwesend auf die Schreibmappe.
Atma nahm den Ring und schob ihn selbst Silvester über den Ringfinger der Rechten. Breit und kühl legte sich das Gold des massiven Reifens um das Fingerglied. Silvester fühlte neue Zuversicht in sein Herz dringen, als er den Ring wieder an der Stelle fühlte, an der er ihn so lange Jahre getragen hatte. Alle Ängstlichkeit war geschwunden. Die Zuversicht auf sicheren Sieg erfüllte ihn.
Die Stimme Atmas riß ihn jäh aus diesen Gedanken und Gefühlen.
»Wo ist Jane Harte?«
Der Inder sprach es, während sein Blick sich in den des Doktors bohrte.
Ein kurzes Zucken durchlief die Glieder des Arztes. Es schien, als wolle er sich noch einmal aufbäumen. Aber sein Widerstand war gebrochen. Der Ausdruck einer trostlosen Müdigkeit trat auf seine Züge, während seine Lippen die Antwort formten.
»Auf Reynolds-Farm in Elkington bei Frederikstown.«
Silvester sog die Antwort Wort für Wort wie ein Verdurstender ein. Frederikstown in Kolorado. Den Flecken Elkington kannte er sogar durch Zufall. Die Farm würde sich finden lassen. Jetzt waren alle Schwierigkeiten überwunden. Noch eine kurze Spanne Zeit, und er würde Jane wiedersehen, würde sie im schnellen Flugschiff allen feindlichen Gewalten entziehen.
Atma stand vor dem Arzt. Mit zwingender Gewalt gab er ihm seine letzten Befehle.
»Du wirst bis vier Uhr schlafen. Wenn du aufwachst, wirst du alles vergessen haben. Den Ring, Logg Sar und Atma.«
Der Kopf Dr. Glossins sank auf seine Arme und die Tischplatte nieder. Er lag in tiefem Schlafe.
»Um vier weckst du deinen Herrn.« Im Vorbeigehen sagte es Atma zu dem Diener, der auf dem Flur schlummernd in einem Sessel saß. Flüchtig strich er ihm dabei über Stirn und Augen. Dann schlug die Wohnungstür hinter den Freunden ins Schloß.
Enttäuscht und verbittert hatte Glossin Reynolds-Farm an jenem Tage verlassen, an dem Jane seinen Antrag abwies. Aber auch Jane war durch diese Erklärung erschüttert und aus einer trügerischen Ruhe aufgescheucht. Sie brauchte jemand, auf den sie sich stützen, dem sie sich anschmiegen konnte. Nach dem Tode ihrer Mutter war ihr Glossin solche Stütze geworden. Ein väterlicher Freund, dem sie vertraute. In ihrem natürlichen Schutzbedürfnis zu vertrauen versuchte, soweit ein instinktives, ihr selbst unerklärliches Mißtrauen es zuließ.
Die Werbung Glossins hatte das Verhältnis mit einem Schlage zerstört, hatte Jane von neuem in schwere seelische Kämpfe gestürzt. Das Gefühl tiefster Verlassenheit übermannte sie von neuem. Was blieb ihr nach alledem noch auf dieser Erde? Die Mutter tot … Silvester verloren und verschollen … Glossins Freundschaft falsch?! …
Dazu die Gesellschaft dieser alten Negerin, deren Anblick und Wesen ihr von Tag zu Tag widerlicher wurde. Das Grinsen der alten Abigail hatte jetzt einen besonderen Inhalt und Ausdruck gewonnen, der Jane erschreckte und peinigte. Dazu Redensarten der Schwarzen, die ihr zwar größtenteils unverständlich blieben. Aber auch das wenige, das sie verstand und erriet, erschreckte sie.
Sie verließ das Haus nicht mehr. Die Spaziergänge und Wagenfahrten der früheren Wochen unterblieben. Mit müdem Hirn suchte sie die Fragen zu beantworten.
Was sollte aus ihr werden? Was hatte Glossin mit ihr vor? Weshalb hatte er sie gerade hierher gebracht? … Was sollte sie weiter beginnen? … Wenn sie irgendwo eine Stellung annähme … Eine untergeordnete Stellung … irgendwo … nur fort von hier … fort! … Wäre sie doch in Trenton geblieben! Kein Brief, kein Lebenszeichen aus Trenton hatte sie jemals erreicht.
Fort! … Fort! … Warum war sie nicht schon längst fort? … Warum hatte sie nicht gleich nach der Werbung Glossins die Farm verlassen?
Wie oft hatte sie sich diese Frage schon vorgelegt. Und jedesmal war sie an einen Punkt gekommen, wo sie keine Antwort auf die Frage fand. Warum nicht? Wie viele Versuche hatte sie schon gemacht, Reynolds-Farm zu verlassen. Warum hatte sie das Vorhaben niemals ausgeführt?
Wie ein schwerer Alpdruck lag es auf ihr. Warum nicht … Sie wurde doch nicht gefangengehalten? Nicht einmal bewacht oder kontrolliert.
Sie brauchte doch nur ihr Köfferchen zu packen und das Haus zu verlassen. Nur bis zum nächsten Dorfe zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Sogar ungesehen von Abigail konnte sie das Haus verlassen. Denn das hatte sie schon bald nach ihrer Ankunft hier entdeckt, daß das alte Negerweib der Flasche zugetan war. Gleich nach dem Auftragen des Mittagsmahles verschwand die Alte, und öfter als einmal hatte Jane sich selbst um das Abendessen kümmern müssen. Sie wußte, daß Abigail Stunden hindurch besinnungslos irgendwo in einem Winkel lag. Lange Stunden, in denen sie, von niemand verhindert, das Haus verlassen konnte.
Weshalb hatte sie es nicht getan? Weshalb tat sie es nicht heute?
Ihr Antlitz, so schön und jugendlich, aber blaß durch Kummer und Aufregung, erhielt einen tatkräftigen Zug. Die Falten zu den Mundwinkeln vertieften sich, ihre Augen bekamen ein neues Feuer. Alle Lebensenergien in ihr drängten zur Tat.
Mit einem plötzlichen Ruck erhob sie sich von ihrem Sitz und schritt nach dem Schlafkabinett. Hastig ergriff sie ein paar der notwendigsten Kleidungstücke und begann sie in den kleinen Handkoffer zu stopfen. Und erinnerte sich zur gleichen Zeit, wie oft sie das gleiche schon früher versucht hatte und niemals damit zum Ziele gelangt war. Heute ging es viel besser. Kleiderschicht fügte sich auf Kleiderschicht, und mit einem Seufzer der Befriedigung drückte sie den Bügel des Handkoffers zusammen. So weit war sie früher noch niemals gekommen.
Jetzt nur noch zuschließen! Der Schlüssel befand sich in ihrer Handtasche dort auf dem Tische. Sie entnahm ihn der Tasche, wandte sich wieder dem Koffer zu und fühlte, wie die alte Lähmung von neuem über sie kam. Wie Blei wurden ihr die Füße. Nur mit Mühe konnte sie die wenigen Schritte vom Tisch zum Koffer zurücklegen. Endlich war es gelungen, aber nun lag das Blei in ihren Armen. Sie versuchte es, den Schlüssel in das Schloß zu schieben … Da fiel er klirrend auf die Diele.
Einen Augenblick starrte sie hoffnungslos auf das kleine blinkende Eisen, das da vor ihr auf der Zimmerdiele lag. Dann durchzuckte ein Schluchzen ihren Körper. »… Warum … kann ich … nicht? … Warum … o Gott! … Warum …«
Sie fiel vornüber auf die Tasche und blieb Minuten hindurch regungslos liegen … Eine Macht, ein Einfluß, ihr selbst unerklärlich und unfaßbar, verhinderte sie, dieses offene und unbewachte Haus zu verlassen … Sie ging in das andere Zimmer und warf sich auf ihr Ruhebett.
»Die Qual! … Warum … muß ich diese Qualen leiden? … Wo bleibst du, Silvester?