durch Marcus Marcellus genommen wurde, da fanden die Römer nicht ein altersschwaches, für den Schnitter reifes Gemeinwesen vor, wie später in Alexandreia oder wie die Türken in Konstantinopel oder die Goten in Rom, sondern Syrakus gleicht einem genialen Menschen, der in der Blüte seiner Vollkraft durch niedrige Hinterlist gefällt wird. Cicero pflegt zwar den Marcellus als großmütigen Eroberer zu schildern; das mußte er um des populären Vorurteiles und der advokatischen Tendenz willen; aber glauben darf man ihm nur, daß Marcellus nicht ganz so fürchterlich hauste, wie die Mehrzahl der späteren römischen Statthalter und ihrer Gehilfen, der Steuerpächter. Die Römer waren seit Urzeiten ein Kaufmannsvolk; materieller Vorteil galt ihnen alles. Deshalb ist es unsinnig, den modernen Begriff starren Rechtsgefühles und selbstverleugnender Gewissenhaftigkeit, wie ihn tendenziöse Phrasenmacher der ganz modern empfindenden augusteischen Zeit in die ältere Geschichte eingeschwärzt haben, als Maßstab für das echte, eigentliche Römertum zu verwerten. So lange die Römer nicht hellenisch civilisiert sind, darf man sie im ganzen als Barbaren auffassen. Nichts ist lächerlicher als der Versuch, die modernen Italiener mit den alten Römern in Verbindung zu bringen; das Vorurteil von der »lateinischen Rasse« überlasse man getrost den Journalisten.
Es giebt keine Lateiner mehr; die Völkerwanderungen und Völkermischungen des Mittelalters haben neue Nationen geschaffen, die sich wahrlich mit den Lateinern sehr zum eigenen Vorteile messen können. In Spanien und Gallien war die einheimische keltiberische, resp. keltisch-germanische Bevölkerungsmasse nur mit einer dünnen Schicht von römischen Beamten und sonstigen Geldspekulanten überzogen worden: mit denen ward im Anfange des Mittelalters schnell aufgeräumt. In Spanien sorgten Goten und Sarazenen, in Gallien die unerschöpflich aus dem Osten hervorbrechenden Germanen, namentlich zuletzt die Franken, nach denen jetzt der größte Teil des Landes heißt, für die Zuführung frischen gesunden Blutes in den verfallenden Körper der einheimischen Nationen; einer der gefeiertsten französischen Historiker, der gewaltige Taine, hat eindringlich darauf hingewiesen, daß Galliens Wiedergeburt auf seiner Germanisierung beruht. Vollends in Italien wurde durch die endlosen Einfälle von Germanen und Orientalen eine durchaus neue Bevölkerung an Stelle der ganz verrotteten alten gesetzt; durch anhaltende Mischung bildete sich die neue Rasse, und in den Wirren und Kämpfen des späteren Mittelalters, sowie unter den ständigen Einflüssen der Natur wie der antiken Kulturreste erhielt sie ihren bleibenden Charakter. Daher die großen Unterschiede zwischen den Italienern der verschiedenen Himmelsstriche und Landschaften. Es ist bekannt, daß Sicilien nie ganz römisch geworden ist; es blieb immer ein unterjochtes Stück Ausland, bis im Mittelalter die Griechen von Sarazenen und Normannen abgelöst wurden; die Sitten der einen wie die Kunstwerke der anderen setzen uns noch heute in Erstaunen, während von der Römerzeit nur das Elend übriggeblieben ist, in dem der größte Teil des Landes verkümmern mußte. Es ist nicht minder bekannt, daß Florenz seinen Aufschwung hauptsächlich durch die massenhaften Ansiedelungen deutscher Ritter erhielt; Florenz ist aber die Heimat Dantes, ist Heimat und Hochsitz der italienischen Renaissance, während Rom niemals einen Künstler und seit dem Untergange der antiken Welt überhaupt keinen großen Mann hervorgebracht hat. Über das griechische Element in Neapel, das byzantinische in Ravenna, das keltische in Genua, das germanische in Venedig ist viel geschrieben worden. Nur die Sprache und einige äußere Gebräuche nahmen die neuentstehenden Völkerschaften von den aussterbenden Lateinern zu sich herüber. Der moderne Italiener mit seiner schlanken Gestalt, seinen feinen individuellen Gesichtszügen, seinem empfindlichen Geschmack, seinem elastischen Gang, seinen leichten graziösen Manieren, seinem vollendeten Takt- und Formgefühl, seinem natürlichen Kunstsinn, seiner Lebensfreude und seiner unbezwinglichen Abneigung gegen alle Disciplin hat nichts gemein mit dem kurzen, stämmigen, zwiebelköpfigen, gefühlsrohen, ausschließlich materielle Interessen kennenden Römer des Altertumes, der von Kunst nichts ahnte, sein Bestes als Soldat und Politiker leistete, keine Individualität besaß und mit dem
Begriff auch das
Wort Disciplin erfand. Der Römer – das kann ein Anatom oder Bildhauer ebenso gut beweisen wie ein Psycholog – hätte mehr Ähnlichkeit mit dem Russen als mit dem Toskaner oder Umbrer von heute; der Unterschied ist, wenn auch im umgekehrten Sinne, fast ebenso groß, wie der zwischen dem Athener des perikleischen Zeitalters und dem Albanesen, der heute Attika bewohnt. Vielleicht haben sich in einzelnen Winkeln der Abruzzen versprengte Lateiner fortgepflanzt, wie versprengte Griechen in einigen Bergdörfern Thessaliens; für das Gesamtbild der Nation sind diese Fäserchen ohne Bedeutung. – In beiden klassischen Ländern hat sich die antike Sprache erhalten und das zeugt für ihre Kraft; aber man vergesse nicht zu beobachten, wie sie gesprochen wird: dann merkt man den
Unterschied zwischen den Rassen von einst und jetzt. Der alte Römer war ein Barbar, der Korinth zerstörte, wie er das erste beste Räubernest zerstört hatte; die wunderbare, an Kunstschätzen wie an hochbegabten Menschen überreiche Stadt war längst unfähig, Rom politisch zu schaden, aber die Handelsherren fürchteten die Konkurrenz, und so mußte denn dieses Centrum griechischen Kunstlebens dem Erdboden gleich gemacht werden und seine Bewohner in die Sklaverei wandern. Caesar konnte hier trotz nachdrücklicher Bemühungen so wenig dauernden Wandel schaffen, wie die Hohenstaufen in Sicilien. Von der römischen Wirtschaft in Sicilien giebt uns Cicero unwillkürlich einen Begriff; Verres that ja nur, was viele seiner Vorgänger ebenfalls gethan hatten, und wenn sich mancher Leser beim ersten Eindrucke fragt, wie es nur möglich gewesen wäre, daß ein solches Subjekt hätte freigesprochen werden können, so wird er sich bei näherem Zusehen mit noch größerem Erstaunen fragen, wie es denn möglich war, daß es verurteilt wurde.
Man hat von Analogieen in der Weltgeschichte gesprochen, von ewig waltenden Gesetzen, die in verschiedenen Epochen homogene Entwicklungen erzeugen müssen. Das Schicksal des unglücklichen Sicilien und der übrigen hellenischen Mittelmeerstaaten – von der Krim bis Ägypten, von Asien bis Marseille und der spanischen Küste – unter römischer Herrschaft eröffnet uns vielleicht einen Ausblick auf die Zukunft: man ahnt, was aus der europäischen Kultur und ihren Trägern, aus den Völkern Dantes und Raphaels, Shakespeares und Rembrandts, Goethes und Nietzsches, Beethovens und Schuberts werden wird, wenn wieder ein Barbarenvolk die kleinlichen politischen Zerwürfnisse der höherstehenden Nationen ausnutzen darf, um durch seine eigensinnige, einseitige Beharrlichkeit die Weltherrschaft zu erringen.
Rom, 1897.
Friedrich Spiro.
Vorbereitendes Verfahren: Rede gegen Quintus Caecilius1
Inhaltsverzeichnis
I. (1) Hoher Gerichtshof, verehrte Anwesende!
Mancher von euch wird sich vielleicht wundern, daß ich nach einer so langjährigen, in Staats- und Privatprozessen ausschließlich auf Verteidigung gerichteten Thätigkeit jetzt plötzlich die Richtung wechsele und mich auf eine Anklage einlasse. Mit Recht; denn stets lag es mir fern, jemandem zu nahe treten zu wollen. Wer aber in dem vorliegenden Falle die Beweggründe meines Auftretens kennt, wird ohne Weiteres meinen Schritt billigen und zugleich einsehen, daß hier niemand neben mir als Kläger in Frage kommen kann.
(2) Als meine Quästur in Sicilien 2 zu Ende war, verließ ich die Provinz mit dem Bewußtsein, daß alle Sicilianer meiner Amtsführung und Persönlichkeit ein dauerndes liebevolles Andenken bewahren würden; sie konnten darauf rechnen, neben den berühmten Familien, die seit Generationen das Patronat 3 der Insel übernommen haben, auch an mir eine Stütze für ihre berechtigten Ansprüche zu besitzen. Jetzt, wo man sie gepeinigt und ausgesogen hat, wenden sie sich alle an mich; ganz offiziell, einmal über das andere flehen sie mich an, für ihre Interessen einzutreten; sie erinnern mich an mein oft gegebenes, oft gehaltenes Versprechen, sie nie im Stiche zu lassen, wenn sie mich brauchen. (3) Jetzt sei der Moment gekommen, wo ich nicht irgend welche vereinzelten Interessen, sondern die Existenz der ganzen Provinz schützen müsse; sie könnten ja nicht einmal zu den Göttern mehr ihre Zuflucht nehmen, denn sie hätten gar keine Götter mehr in ihren Städten, seitdem Gaius Verres die heiligen Bilder aus den Stätten der Andacht weggerissen: was überhaupt je die menschliche Grausamkeit, Habsucht, Prasserei und Herrschsucht an Schandthaten zu leisten vermöchte, das alles hätten sie drei Jahre lang unter diesem einen Landvogte durchgemacht – nun sollt ich sie doch nicht umsonst flehen lassen, wo ich eigentlich dafür verantwortlich