Den Passagieren drehte sich das Herz im Leibe herum bei der gefährlichen Fahrt. Gerda ward es schwarz vor den Augen, Mariannchen wurde kreuzelend, und Irenchen sah noch blasser aus als sonst, denn es war ihr schrecklich übel. Aber immer weiter ging’s – »wir reisen nach Amerika – hurra!«
»Mann über Bord!« schrie Frida plötzlich vom Leuchtturm herab, während Irenchen entsetzt die Hände hinter ihrem ins Meer gefallenen Baby herstreckte. Kurt, der mutige Steuermann, sprang, da das blaue Haarband, mit dem er festgebunden, inzwischen gerutscht war, beherzt hinterdrein. Aber der Herr Kapitän ließ sie alle beide ertrinken. Denn das gehört zu einer richtigen Reise nach Amerika.
In der Tür erschien, angelockt von dem Lachen und Jubel, neugierig Puck.
»Willst du mit nach Amerika reisen, Puckchen? Dann darfst du mein neuer Steuermann sein!« Ehe das Zwerghündchen noch »Ja« oder »Nein« hätte bellen können, hatte der Herr Kapitän es auch schon beim Wickel und auf seinen neuen Posten, an den Mastbaum, gestellt.
»Wir reisen nach Amerika – hurra!«
»Wau – wau!« blaffte der neue Steuermann wütend dazwischen, denn es dünkte ihn höchst ungemütlich auf dem schwankenden Schiff.
Puppe Gerda, die sich schon seit geraumer Zeit seekrank fühlte und die Augen, weil ihr so elend war, geschlossen hielt, blinzelte ängstlich zu dem kläffenden Steuermann hin.
»Lieber Gott, daß er mich nur nicht beißt!« flüsterte sie.
Bums – da war das Schiff gegen ein Felsenriff, den Eimer, gefahren und wäre bei einem Haar gescheitert.
Der gewissenlose Steuermann ließ seinen Posten im Stich und rettete sich mit einem erschreckten »Wau – wau« ans Ufer. Die Passagiere aber, Fräulein Gerda, Fräulein Irenchen und Mariannchen, stürzten sich kopfüber in die blauen Fluten. Nur Lolo, das Negerkind, reiste jetzt noch einsam auf dem großen Schiffe weiter nach Amerika.
Da kamen Hans und Klaus aus der Schule. Als die das Schwesterchen bei ihrem lustigen Spiel sahen, schlug Hans vor: »Komm, Annemie, ich mache dir noch ein Schiff aus Papier, das bindest du dann als Rettungsboot hinten an!«
»Ach ja, Hänschen«, jubelte Annemarie und lief hinter dem großen Bruder her.
Klaus ließ seine Augen inzwischen über die verunglückte Besatzung des Schiffes schweifen. Puppe Gerda bibberte schon an allen Gliedern, weil sie den gefährlichen Klaus nur im Zimmer wußte. Wie aber wurde ihr erst zumute, als sie sich von tintenbeschmierten Jungenhänden plötzlich roh am Arm emporgezerrt fühlte!
»Himmel, jetzt murkst er mich ab!« dachte sie herzklopfend.
Die Leiter, die Frida soeben verlassen hatte, um frisches Wasser zu holen, kletterte der Nichtsnutz mit der armen Puppe empor. Immer höher und höher ging es – »will er mich etwa gleich selbst in den Himmel befördern?« kaum vermochte die Puppe vor Aufregung noch diesen Gedanken zu fassen.
Aber jetzt wurde haltgemacht. Wupp – da saß die vor Angst halbtote Gerda hoch oben auf dem Ofen, der noch dazu an dem kalten Apriltage geheizt war.
»Au – ich hab’ mich verbrannt!« schrie Puppe Gerda, aber hohnlachend rutschte der wilde Klaus die Leiter herunter.
Weinend thronte die Puppe auf ihrer einsamen Höhe.
»Ach Gott – ach Gott, wie soll mich mein Mütterchen bloß je im Leben hier wiederfinden?«
Da kam Annemarie glückstrahlend mit ihrem Rettungsboot zurück. Sie band es an die Teppichmaschine und fischte die Ertrunkenen wieder aus dem Ozean heraus.
»Nanu, wo ist denn mein Gerdachen hingekommen?« verwunderte sie sich. »Habt ihr Gerda nicht gesehen?« wandte sie sich an die übrigen Fahrgäste.
Irenchen wies mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung des Ofens, aber die Kleine achtete nicht darauf. Auch nicht auf das feine, weinende Puppenstimmchen, das sie von oben rief. Sie stürzte in die Jungenstube, denn sie ahnte sogleich den Täter.
Dort saß Klaus mit dem harmlosesten Gesicht der Welt und machte seine Rechenaufgaben.
»Klaus, hast du meine Gerda genommen?« fragte sie kampfbereit.
»Laß mich mit deiner dummen Puppe in Frieden«, brummte der und steckte die Nase noch tiefer ins Buch.
Die Kleine hielt es für geraten, andere Saiten aufzuziehen.
»Kläuschen, liebes, gutes Kläuschen, ach, gib mir doch meine kleine Gerda wieder!« bettelte sie.
»Such’ sie dir«, brummte der Puppenräuber.
»Also du hast sie genommen, du abscheulicher Junge, na warte!« Annemaries schon zum Boxen erhobene Ärmchen sanken aber wieder herab. Sie jagte aus dem Zimmer, die Mutterliebe war stärker als die Rauflust.
»Sie ist nach Amerika geschwommen, wenn sie nicht unterwegs ein Haifisch verschluckt hat«, rief der ungezogene Klaus noch hinter dem Schwesterchen her.
Im Wohnzimmer durchsuchte Annemarie in Gemeinschaft mit Frida jeden Winkel. Gerda blieb verschwunden. Bitterlich weinend stand die kleine Puppenmutter unten, während oben auf dem Ofen ihr Kind ebenso bitterlich weinte.
Da rief Frida, welche die Kronenglocken säuberte, plötzlich von der Leiter herab: »Ich sehe sie – da guckt ein Bein über den Ofenrand – na, hoffentlich ist sie nicht aus Wachs, sonst ist die da oben bestimmt geschmolzen.«
Sie rückte die Leiter an den Ofen und rettete das arme Puppenkind vor dem Verbrennungstod. Das Herz klopfte der kleinen Annemarie inzwischen bis in den Hals hinein.
Lieber Gott – würde ihre Gerda, ihr süßes Nesthäkchen, auch nicht geschmolzen sein – oder am Ende gar so braungebrannt wie die Negerpuppe?
Da hielt sie ihr Kind endlich wieder im Arm, fest, ganz fest. Nein, es war noch genau so schön, wie vorher, nur ein bißchen erhitzt fühlte es sich an. Selig küßten sich die beiden, als ob Gerda wirklich aus Amerika angereist gekommen wäre.
Von nun an aber hatte Puppe Gerda noch viel, viel größere Angst vor dem bösen Klaus.
5. Kapitel
Nesthäkchen macht schlechtes Wetter
Die Bäume im Tiergarten hatten ihr neues, hellgrünes Maikleid angelegt, die Vögelchen pfiffen und flöteten ihre Frühlingslieder, herrlich blühte der Flieder. Auf den Bäumen krabbelte es von Maikäfern, und auf den Spielplätzen von kleinen Buben und Mädeln.
Aber so lustig es auch im Tiergarten war, es kostete Annemarie jedesmal einen Kampf, von Hause fortzugehen, denn dort war es jetzt noch tausendmal lustiger. Da wurde der alte, häßliche Winterstaub aus allen Ecken und Winkeln gejagt, mit großen Besen und Scheuerbürsten und wahren Fluten von Seifenwasser. Hanne und Frida, die hatten es gut. Die brauchten nicht mit Fräulein in den ollen Tiergarten spazierenzugehen, die durften den ganzen Tag nach Herzenslust klopfen, bürsten und fegen, seifen und panschen. Ach, wie Annemie die beiden beneidete! Besonders da Mutti auch meistens dabei half.
»Bist du sehr traurig, Fräulein, daß du nicht mit reinmachen darfst?« fragte sie mitleidig, als es wieder mal in den Tiergarten ging.
»Nein, ganz und gar nicht«, lachte Fräulein. »Ich gehe viel lieber spazieren, du doch auch, Annemiechen?«
»Ach wo«, rief die Kleine und lachte ebenfalls, denn sie glaubte, ihr Fräulein mache nur Spaß. Sie konnte sich nicht denken, daß jemand noch etwas anderes schöner finden könnte als Reinmachen.
»Ich wollte, es regnete alle Tage, daß ich zu Hause bleiben müßte«, sagte sie mit