»Fräulein, sie hat sechsundsiebzig Grad, das Kind hat schrecklich hohes Fieber, es muß sofort ins Bett!« Ehe Gerda wußte, wie ihr geschah, war sie ausgezogen und lag im Bett von Irenchen und Mariannchen, trotzdem sie sich ganz gesund fühlte. Das Unangenehmste aber war, daß Annemie ihr den triefenden Waschlappen als kalte Kompresse auf die Stirn legte.
Ach, wäre sie doch bloß artig gewesen und hätte abgebeten!
Annemie aber fand, daß Gerdas Fieber noch immer stieg, und als das Badethermometer neunundneunzig Grad anzeigte, da schickte das besorgte Mütterchen ihren Puppenjungen Kurt zu Doktor Puck.
Der lag auf dem Sofa, auf dem er eigentlich gar nicht liegen durfte, und hielt sein Mittagsschläfchen. Aber er wollte nachher mit herankommen und nach der Kleinen sehen.
Nein, was bekam Gerda für einen Heidenschreck, als sich plötzlich die Mullgardine des Himmelbettes zurückschob, und das weißbärtige Gesicht des Doktor Puck erschien.
»Ich bin ja gar nicht krank, ich bin ja ganz gesund«, rief sie, aber keiner hörte auf sie.
Doktor Puck legte ihr seine kalte Pfote auf die Stirn, sah sie aufmerksam an und sagte dann achselzuckend: »Wauwau.« Das hieß auf deutsch: »Ja, ich weiß auch nicht, was Ihrer Kleinen fehlt.«
Da beschloß Annemie, einen ganz berühmten Doktor zu Rate zu ziehen, damit Gerdachen nur nicht sterben mußte.
Es war nach der Sprechstunde, und die Patienten schon alle wieder gegangen. Da klopfte es bescheiden an die Tür von Doktor Brauns Sprechzimmer.
Der Arzt erhob sich und öffnete die Tür zum Warteraum. Hatte er etwa einen Patienten vergessen?
Vor ihm stand eine kleine Dame mit einem Mantel, der eine lange Schleppe hatte. Auf dem Kopf hatte sie einen schönen Federhut, der Doktor Braun sehr bekannt vorkam, und unter welchem zwei winzige Rattenschwänzchen hervorlugten. Im Arm aber hielt sie etwas Längliches, in ein großes Tuch geschlagen.
»Guten Tag, Herr Doktor, mein Kind ist so krank!« sagte die kleine Dame mit verstellter Stimme und machte ein bekümmertes Gesicht.
»Oh, das tut mir aber leid, treten Sie näher, gnädige Frau, bitte, setzen Sie sich«, damit wies Doktor Braun auf den Patientenstuhl.
Selig nahm Annemie, denn sie war die kleine Dame mit Muttis schönem Federhut, Platz.
»Zeigen Sie die Kleine mal her, gnädige Frau«, gebot der Arzt.
Das große Tuch wurde auseinandergeschlagen, und Gerda kam zum Vorschein.
»Na, mein Herzchen, was fehlt dir denn?« fragte der Herr Doktor sie freundlich, daß Gerda sich lange nicht so vor ihm fürchtete wie vor dem Doktor Puck.
»Ich glaube, das Kind hat den Keuchhusten«, sagte die kleine Mama an ihrer Stelle.
»Hustet sie denn sehr?«
»Nein, gar nicht, aber sie hat neunundneunzig Grad Fieber.«
»Na, dann werde ich Ihr Töchterchen mal schnell wieder gesund machen, gnädige Frau«, sagte der berühmte Arzt.
Er zog sein schwarzes Hörrohr vor, setzte es Puppe Gerda auf die Brust und legte sein Ohr an die andere Seite des Hörrohrs. Dann beklopfte er sie noch, während Annemie stolz dachte: »Vater untersucht viel feiner als Puck!« Darauf sagte der Herr Doktor beruhigend: »Die Kleine scheint sich nur erkältet zu haben.«
»Nicht mal Keuchhusten?« Die Mutter schien damit nicht recht zufrieden.
»Nein, sie hat nur etwas Drüsen, ich werde ihr einen Verband machen, dann ist sie morgen wieder ganz gesund.« Doktor Braun holte Verbandzeug und machte Puppe Gerda einen so schönen Verband, daß sie den Kopf nicht mehr bewegen konnte.
Mit andächtigen Augen sah ihre kleine Mama zu. Sie beneidete ihr Kind sogar ein bißchen um den feinen, richtigen Verband.
»So, gnädige Frau, nun ist die Kleine fertig.«
Aber die »gnädige Frau« erhob sich noch nicht, sie sah den Arzt mit bettelnden Augen an.
»Wünschen Sie noch etwas, gnädige Frau?«
»Ich möchte so schrecklich gern auch solch seinen Verband haben«, kam es mit einem sehnsüchtigen Seufzer von den Lippen der kleinen Dame.
»Sie – gnädige Frau,« der berühmte Arzt sah mit einem Male merkwürdig lustig drein, »aber Sie sind doch ganz gesund. Oder fehlt Ihnen irgend etwas?«
»Ich – meine beiden Däume tun mir so weh, das kann am Ende Lungenentzündung werden«, meinte die kleine Dame besorgt. Dabei wies sie dem Herrn Doktor ihre Däumchen, die zwar etwas schwärzlich, aber durchaus heil waren.
»Ich werde Ihnen ein Rezept verschreiben, gnädige Frau, nehmen Sie tüchtig Waschungen mit Seife vor«, verordnete der Arzt.
Aber damit war Annemie nicht einverstanden. Sie wollte ihren Verband haben, was war sie denn schlechter als Gerda!
Die »gnädige Frau« sagte sehr wenig freundlich »adieu, Herr Doktor«, und vergaß sogar zu danken.
Aber die Tür hatte sich noch nicht lange hinter der Patientin geschlossen, da vernahm Doktor Braun ein durchdringendes Geschrei.
Erschreckt eilte er hinterdrein.
Da stand im Wohnzimmer die kleine Dame mit dem schönen Federhut, in der rechten Hand hielt sie eine Schere, während sie die linke mit jämmerlichem Geschrei ihm entgegenstreckte. »Au – au – es blutet!« und gleich darauf, unter Schmerzen lächelnd: »Nun muß ich doch einen Verband haben!«
»Du dumme, kleine Lotte!« sagte Doktor Braun und vergaß allen Respekt. »Wie kommst du denn zu der Schere, du sollst doch keine anfassen!«
»Ach, ich wollte doch so furchtbar gern einen richtigen Verband haben, und weil meine Däume doch so schrecklich heil waren, wollte ich mich nur so ’n ganz klein bißchen schneiden. Aber die olle Schere hat gleich so toll geschnitten – au – au – es tut ja so weh!«
»Siehst du, Lotte, das ist die Strafe dafür, daß du die Schere angefaßt und dich mit Willen geschnitten hast; nun mußt du die Schmerzen ertragen«, sagte Vater ernst. Aber er nahm sein weinendes Nesthäkchen doch mit in das Sprechzimmer und machte ihr einen Verband, der war noch viel schöner als Gerdas.
Ach, wie stolz war Annemie darauf, nun tat es lange nicht mehr so weh.
Am nächsten Tage durfte Puppe Gerda ihren Verband abnehmen und war wieder ganz gesund, während ihre kleine Mama noch mehrere Tage mit verbundenem Händchen gehen mußte.
Den Keuchhusten aber bekamen sie alle beide nicht.
8. Kapitel
Dudel-Dudel-Leierkasten
Klein-Annemarie saß mit ihren sämtlichen Kindern in ihrem Gärtchen draußen auf dem Blumenbrett. Davor waren Eisenstäbe angebracht, daß sie nicht herausfallen konnte.
Wunderschöne Blumen hatte Annemie in ihrem Gärtchen gesät: Winde, Bohnen und Kresse. Leider merkte man aber vorläufig noch gar nichts davon. Nicht das kleinste grüne Spitzchen wollte sich in den Zigarrenkisten mit brauner Erde zeigen. Das kam daher, weil Annemie jeden Tag die gesäten Bohnen wieder ausgrub, um nachzusehen, ob sie denn noch immer nicht anfangen wollten, grüne Blättchen zu treiben.
Den Puppen gefiel es aber trotzdem in ihrem Gärtchen. Die Sonne schien so hell und warm, daß Irenchens blasse Wangen sich leise zu röten begannen. Und Mätzchen, der ebenfalls seine Sommerwohnung auf dem Blumenbrett bezogen hatte, schmetterte und jubilierte so lustig, daß selbst die schwarzgrauen Spatzen, die sich auf dem Dach herumzankten, andächtig lauschten.
Ach, was gab