Aber wozu war denn ihr kleiner Tisch so wunderschön weiß? Der ging doch geradesogut wie der schönste Bogen Papier!
Schwapp – da klebte bereits das erste Bild auf dem Tischchen. Annemie panschte unbekümmert um Puppe Gerdas durchweichte Locken den ganzen Inhalt des Seifnäpfchens über das Bild. Das ließ sich ja wieder füllen. Dann drückte sie mit Babys Windelhöschen auf das nasse Papier. Aber da die Höschen winzig klein waren und nicht genügend deckten, nahm Annemie unbekümmert ihr reines Stickereischürzchen zu Hilfe und drückte nun mit ihrer ganzen gewichtigen kleinen Person, so sehr sie nur konnte.
So, jetzt vorsichtig – ganz behutsam – ein Eckchen des nassen Papiers heben – »siehst du, Gerda, so muß man das machen!«
Mit heißen Bäckchen zog Annemie das Papier herunter – »Hurra, der Struwwelpeter!«
Er war zwar nicht ganz vollständig geworden, die langen Nägel fehlten, und auch die Wuscheltolle war nur halb mit heraufgekommen. Aber er prangte doch immerhin unverkennbar auf dem Kindertischchen.
Annemie wies der bewundernden Gerda stolz ihr Kunstwerk und ging ans zweite Bild.
Der böse Friederich mit Schwester Gretchen erschien über dem Struwwelpeter. Es war nur schade, daß sich das Papier verschoben hatte, und daß der Hund und die schöne Leberwurst dadurch statt auf den Tisch auf Annemies weißes Schürzchen gerutscht waren. Auch der Zappelphilipp zappelte vom Tischchen herunter und auf Annemies rosa Batistärmelchen. Die nassen, leeren Papiere aber klebte das Doktortöchterchen sich und Gerda auf die Bäckchen und auf die Stirn, die gaben herrliche Pflaster.
Gerade als die kleine Künstlerin in ihrem Eifer das ganze Seifnäpfchen mit Wasser über sich und Gerda statt über das Bild ausgegossen hatte, erklang Fräuleins Stimme aus dem Eßzimmer: »Annemiechen, du sollst reinkommen und der Tante ›Guten Tag‹ sagen.«
Die Kleine ergriff ihre triefende Gerda und eilte spornstreichs ins Eßzimmer.
Der Mohrenkopf und die Marzipankartoffel – Himmel, die hatte sie ja über ihre Abziehbilder ganz vergessen!
Ein schneller Blick zum Kuchenkorb – die Marzipankartoffel war fort, aber der Mohrenkopf thronte noch in seiner ganzen braunen Herrlichkeit auf dem schon etwas zusammengeschmolzenen Kuchenvorrat.
»Annemie – Lotte – wie siehst du denn aus!« Mutti und Fräulein riefen es entsetzt wie aus einem Munde, noch ehe die Kleine vor Tante Albertinchen ihren Knicks machen konnte.
»Ich – ach Gott, ich hab’ mich wohl etwas naß geplanscht, aber das trocknet wieder!« beruhigte Nesthäkchen die beiden und reichte Tante Albertinchen mit einem Knicks das Händchen.
»Guten Tag, mein Herzchen« – da aber zog die Tante ihre feine, geäderte Hand schnell zurück, denn das Kinderhändchen, das sich ihr bot, war naß und klebrig.
»Aber Annemie, was hast du denn bloß inzwischen angestellt?« rief Fräulein wieder, die sich erst allmählich von ihrem Schreck erholte.
»Ich habe feine Abziehbilder gemacht, den Struwwelpeter und den Zappelphilipp, du wirst dich freuen, Fräulein«, sagte die Kleine stolz.
»Den Zappelphilipp genießen wir ja hier bereits«, Mutti hielt Annemies rosa Batistärmelchen vorwurfsvoll in die Höhe. »Nun laß dich bloß erst menschlich machen, und nimm das schmutzige Papier vom Gesicht, du siehst ja aus wie ein verwundeter Krieger. Schämst du dich denn gar nicht, dich so vor der Tante zu zeigen?«
Annemie wurde rot bis zu den blonden Löckchen. Ja, sie schämte sich vor der Tante, doch nicht wegen ihres wenig besuchsmäßigen Aufzuges, sondern weil Mutti sie vor der Tante tadelte. Aber als sie jetzt einen scheuen Blick zu Tante Albertinchens lieben, alten Gesicht hinwandern ließ, sah sie, daß die Tante ihr belustigt zulächelte. Da war sie wieder getröstet. Ach, Tante Albertinchen war ja so gut, die aß ihr auch sicher nicht den Mohrenkopf fort! Sie hatte ja schon die Marzipankartoffel!
Fräulein führte Nesthäkchen ins Kinderzimmer zurück und machte ihr unterwegs ebenfalls noch Vorwürfe. Annemie sah betrübt drein, daß ihr Fräulein so böse auf sie war. Ja, wirklich, Fräulein hatte recht, sie war ein ganz unachtsames, kleines Mädchen! Da hatte sie erst Gerda Vorhaltungen gemacht, und sie dann selber nicht befolgt. Aber Fräulein würde schon wieder gut werden, wenn sie erst ihre schönen Abziehbilder drin sah.
Doch zu Annemies größtem Staunen äußerte sich Fräulein durchaus nicht freudig beim Anblick ihrer schönen Bilder.
»Um Himmels willen – du bist ja heute ein ganz schreckliches Kind – nicht nur, daß du dein hübsches Kleid und deine Schürze beschmutzt, jetzt hast du auch dein Kindertischchen total verdorben. Zur Strafe dürftest du jetzt eigentlich gar nicht wieder zur Tante rein«, schalt Fräulein aufgebracht.
»Ach, liebes Fräulein, ich kann doch nichts dafür, wenn gerade kein Bogen Papier da war, und das Tischchen seift Frida wieder ab, und die Tante, die wäre schrecklich traurig, wenn ich nicht wieder rein käme. Am Ende stirbt sie sogar davon, weil sie schon so alt ist!« weinte Annemarie.
Der letzte Grund schien Fräulein zu rühren, sie begann Annemie wieder besuchsfähig zu machen. Aber das war ein schwieriges Stück Arbeit. Die aufgeklebten Pflaster lösten sich nur schmerzhaft ab, doch Annemie schrie bloß ganz leise, damit Tante Albertinchen nicht etwa in Ohnmacht fiel.
Nun noch Gesicht und Hände sauber gewaschen, das Blümchenkleid übergezogen, und Annemie war wieder fertig.
Aber sie ging noch nicht. Erst mußte Fräulein wieder gut sein. Das hielt die Kleine nicht aus, daß ihr Fräulein böse auf sie war. Die Versöhnung fiel denn auch von Annemies Seite so stürmisch aus, daß die Haarschnecken ins Rutschen kamen. Nachdem sie wieder befestigt, konnte Annemie endlich wieder mit ihrer Gerda antreten.
»Was meinst du, Gerdachen, ob der Mohrenkopf wohl noch da sein wird?« flüsterte sie ihrer Puppe aufgeregt auf dem Wege ins Ohr.
Die machte ein zweifelhaftes Gesicht.
Aber nein – da lag er noch, Annemie wußte es ja: Tante Albertinchen war gut!
Jetzt ergriff auch die Tante ohne Zögern die kleine Hand und küßte ihren Liebling herzlich.
»So gefällst du mir, Annemiechen, also das ist deine neue Gerda? Guten Tag, mein Kind.«
Gerda machte einen wohlerzogenen Knicks.
»Wie alt bist du denn, Kleine?«
Gerda schwieg verlegen.
»Sie schoniert sich«, erklärte ihr Mütterchen.
Nachdem die Tante sich ein Weilchen mit Annemie und Gerda unterhalten hatte, wandte sie sich wieder Mutti zu. Nesthäkchen stand daneben und tat das, was sie vorhin ihrem Kinde streng verboten hatte: Sie ließ ihre Blauaugen zwischen dem Mohrenkopf und Tante Albertinchens umfangreichen Perlpompadour hin und her wandern.
Die Tante schien ihre Gegenwart augenscheinlich ganz vergessen zu haben. Annemie fand es für angemessen, sich wieder in Erinnerung zu bringen.
»Es dauerte lange, Tante Albertinchen!« sagte sie mit schelmischem Lächeln.
»Was denn, Herzchen, mein Besuch?«
»Nein – aber – – –« ein sprechender Blick auf den Perlpompadour vollendete den Satz.
»Aber Lotte,« rief Mutti ungehalten, »wer wird denn betteln!«
Doch das gute Tante Albertinchen lachte. »Das ist recht, Herzchen, daß du mich daran erinnerst. Wenn man erst so alt ist wie ich, da vergißt man manches!« Sie zog zu Annemies Begeisterung eine große Tüte Schokoladenplätzchen aus dem Pompadour.
Die Kleine dankte mit einem seligen Knicks. Es war doch besser, daß sie Tante Albertinchen erinnert hatte!
Nun hätte Annemie eigentlich wieder in ihr Kinderzimmer gehen können, aber da war ja noch etwas, was