Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Stefan Zweig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Zweig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027214389
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über der Stadt.

      Die Frauen und die Besorgteren unter den Männern hüteten seit den ärgerlichen und gefahrdrohenden Szenen bei der Prozession das Haus. Dem Pöbel und den Protestanten gehörte die Straße nunmehr allein. Auch Esther war daheim geblieben in den letzten Tagen. Aber sie wußte von all diesen Stürmen und Geschehnissen nichts. Sie merkte dumpf, daß sich mehr und mehr in der Schenke die Menschen drängten, daß sich kreischende Dirnenstimmen in den erregten Chor der streitenden und fluchenden Männer mischten, sie sah rings verstörte Frauengesichter und heimlich tuschelnde Gestalten, aber eine dumpfe Lässigkeit allen Dingen gegenüber erfüllte sie dermaßen, daß sie nicht einmal ihren Ziehvater darum fragte. Sie dachte nur mehr an das Kind, an jenes Kind, das längst in ihren Träumen das ihre geworden war; alle Erinnerung verdämmerte in diesem einen Bilde. Nicht mehr fremd schien ihr die Welt, sondern wertlos, weil sie ihr nichts zu geben hatte; in dem Kindesgedanken verlor sich ihre liebende Hingebung und das glühende Gottesbedürfnis ihrer Jahre. Nur die eine Stunde, da sie sich zu dem Bilde, das ihr Gott und Kind zugleich war, hinschlich, atmete sie wirkliches Leben, sonst war ihr Tun und Treiben nur das sehnsüchtige Irren einer Verträumten, die an den Dingen wie eine Mondsüchtige vorübergeht. Tag für Tag und einmal auch eine lange und von heißen Düften schwere Sommernacht, da sie verstohlen aus dem Hause geflüchtet war und sich in die Kirche hatte einschließen lassen, lag sie auf den Knieen vor diesem Bilde, das ihre unwissende Seele sich zum Gott gekrönt.

      Und diese Tage lasteten schwer auf ihr, denn sie versperrten ihr den Weg zu ihrem Kinde. Während des Marienfestes erfüllten festliche Mengen die hohen Gänge und das orgelbrausende Kirchenschiff; gekränkt und demütig wie eine Bettlerin mußte sie sich aus dem Gewirre der Frommen wieder zum Ausgange wenden, denn Gläubige umstanden unablässig an diesem Tage die Marienbilder, und sie mußte fürchten erkannt zu werden. Traurig und fast verzweifelt ging sie zurück und fühlte all die schwere Sonnenhelle des Tages nicht, weil ihr der Anblick des Kindes versagt war. Neid und Zorn packte sie beim Anblicke der unablässig heranpilgernden Scharen, die in frommer Wallfahrt durch die hohe Pforte der Kathedrale in das blaue duftende Dunkel traten.

      Und trauriger wurde ihr noch der nächste Tag, da man es ihr versagte, auf die mit gefährlichen Gestalten durchzogene Straße zu gehn. Ihre Stube, zu der der Lärm der Schenke aufbrauste wie ein dicker häßlicher Qualm, wurde ihr unerträglich. Ihrem verwirrten Herzen war ein Tag, da sie das Kind auf dem Bilde nicht sehen durfte, wie eine dunkle finstere Nacht ohne Schlaf und ohne Träume, eine Nacht nur mit Qual, Dunkel und Sehnsucht angefüllt. Noch war sie nicht stark genug, eine Entbehrung zu tragen. Spät abends, als ihr Ziehvater in der Schenke mit seinen Gästen saß, stieg sie ganz leise und behutsam die Treppen hinunter. Sie tastete an die Pforte und atmete auf: sie war offen. Leise und schon mit einem linden Gefühle lang entbehrter Lust schlüpfte sie durch die Türe und eilte der Kathedrale zu.

      Die Straßen, die sie im Laufen durchmaß, waren dunkel und voll dumpfen Gedröhnes. Allerorts hatten sich einzelne Scharen zusammengerottet, und die Nachricht von der Abreise des Prinzen von Oranien hatte alle zügellosen Gewalten entfesselt. Die drohenden Worte, die tagsüber nur einzeln und unüberlegt aufgezuckt waren, klangen jetzt wie Kommandorufe. Dazwischen heulten die Trunkenen und sangen die Begeisterten die Rebellionslieder, daß die Fenster dröhnten. Die Waffen wurden nicht mehr versteckt, Beile und Haken, Schwerter und Pflöcke blitzten im unruhigen Fackelschein; wie eine gierige Flut, die nur noch minutenlang zögert, alle Dämme mit Schaum und Wogen zu überspringen, so ballten sich diese finsteren Massen zusammen, denen niemand zu wehren wagte.

      Esther hatte nicht acht auf diese ungebärdige Schar, ob sie auch im Vorbeischlüpfen einmal einen rohen Arm zurückstoßen mußte, der nach ihrem hüllenden Kopftuche neugierig und begehrlich griff. Sie fragte gar nicht, warum solche Raserei plötzlich die Rotten erfüllte, deren Treiben und Rufen sie nicht verstand; nur Ekel und Angst überkam sie, und ihr Schritt beschleunigte sich mehr und mehr, bis sie endlich atemlos vor der hohen, mit weißen Mondschleiern überwebten Kathedrale stand, die tief in die Schatten der Häuser gebettet schlief.

      Beruhigt und mit einem leise erschauernden Beben trat sie bei einer Seitenpforte ein. Es war ganz dunkel in den hohen lichtlosen Gängen, nur um die mattfarbigen Scheiben zitterte ein mystisches mondsilbernes Licht. Menschenverlassen war das Gestühle. Kein Schatten schwankte in den weiten atemstillen Räumen, und die Heiligengestalten standen vor den Altären in schwarzem reglosen Erz. Und wie leise aufzuckendes Glühwurmblinken flackerte aus der Tiefe, die endlos schien, das schwankende Leuchten des ewigen Lichtes über den Kapellen. Alles war heilig und still in dieser unbewegten Ruhe, so daß sie, erfüllt von der schweigsamen Majestät des Raumes, ihre tappenden Schritte fürchtig dämpfte. Mühsam tastete sie sich so zum Seitengange durch und ließ sich erschauernd, mit einem unendlichen und doch mystisch gedämpften Jubel vor dem Bilde nieder, das in dem fließenden Dunkel aus dichten und duftenden Wolken herabzublicken schien, unendlich nah und unendlich ferne. Und nun dachte sie nicht mehr. Es war wie immer: das ganze wirr-sehnsüchtige Fühlen ihrer werdenden Mädchenseele zerspann sich in phantastische süße Träume, die Inbrunst schien allen ihren Fibern zu entströmen und sich als berauschende Wolke ihrer Stirn zu umschmiegen. Wie ein süßes und sanft betäubendes Gift waren diese langen Stunden vereinter unbewußter Gläubigkeit und unbewußter Liebessehnsucht, sie waren eine dunkle Quelle, die selige Hesperidenfrucht, die alles göttliche Leben erhält und nährt. Denn in diesen süßen, haltlosen und wollustdurchschauerten Träumen war alle Seligkeit. Einsam pochte ihr erregtes Herz in die große Stille der leeren Kirche. Vom Bilde kam ein ganz leichter, heller, gleichsam silberdunstiger Glanz, wie von einem tief innen strahlenden Lichte, aber sie erkannte ihr Kind in den ekstatischen Träumen, die sie von den frierenden kalten Stufen emportrugen in eine milde warme Sphäre erträumten Lichtes. Längst wußte sie nicht mehr, daß dies ein fremdes Kind gewesen sei, das sie nur gekannt. Sie träumte den Gott in ihm und den Gott einer jeden Frau, das eigene blutwarme Wesen ihres Leibes; dumpfe Gottessehnsucht, sucherische Ekstatik und werdende Muttersehnsucht spannen zusammen das lügnerische Netz ihres Lebenstraumes. Für sie war nun Helle in dieser lastenden breiten Dunkelheit, ein zartes Tönen harfte auf in der schauernden Stille, die nichts wußte von Menschenwort und Uhrenschlag. Über ihren hingestreckten Körper ging die Zeit mit unhörbaren Schritten…

      Ein jäher Stoß erschütterte mit einem Male die Pforte. Und ein zweiter und dritter, daß sie entsetzt auffuhr und in das furchtbare Dunkel starrte. Und neue donnernde Stöße, daß das ganze hohe stolze Gebäude erzitterte und die einsamen Lampen wie feurige Augen durch das Dunkel rollten. Wie hilfloses Schreien gellte das Feilen des gesprengten Türriegels durch den leeren Raum, dessen Wände sich die schaurigen Geräusche wirr und heftig zuwarfen. Gieriger Zorn vieler Menschen hämmerte an der Pforte, und ein Brausen erregter Stimmen dröhnte in die hohle Einsamkeit, als hätte das Meer donnernd alle Dämme zerrissen und stände mit seinen anprallenden Wogen vor den ächzenden Türen des schlafenden Gotteshauses.

      Esther horchte verstört, wie aus einem Traume geschreckt. Aber da schmetterte endlich das Tor nieder. Ein dunkler Strom Menschen quoll heftig herein und füllte mit jähem Johlen und Toben die gewaltige Halle. Und mehr, immer mehr. Tausende schienen draußen noch zu warten und sie anzufeuern. Und trunkene Fackeln funkelten plötzlich hoch auf wie gierige Hände, und ihr irrer blutiger Schein fiel auf wilde, von blindem Eifer verzerrte Gesichter, aus denen die Augen heiß quollen wie sündige Begierden. Nun ahnte Esther erst dumpf die Absicht der finsteren Rotten, denen sie unterwegs begegnet war. Und schon knatterten die ersten Axtschläge nieder in das Holz der Kanzel, Bilder sausten zu Boden, Statuen knickten um, Flüche und Hohnworte wirbelten auf aus diesem dunklen Schwall, über dem die Fackeln unruhig tanzten, wie erschreckt von dem wahnwitzigen Gebaren. Wirr ergoß sich die Flut gegen den Hauptaltar, plündernd und vernichtend, schändend und entweihend. Hostien flatterten zu Boden nieder wie weiße Blüten, eine ewige Lampe sauste von wilder Faust geschleudert wie ein Meteor durch das Dunkel. Und immer mehr Gestalten drängten nach, die Fackeln flackerten häufiger und häufiger. Ein Bild fing Feuer und die Flamme leckte hoch auf wie eine züngelnde Schlange. Irgend einer hatte die Orgel gepackt; die irren Töne ihrer zerschmetterten Pfeifen schrieen gell und hilfesuchend durch das Dunkel. Und Gestalten tauchten auf wie aus wirren und wahnsinnigen Träumen. Ein toller Geselle mit einem blutigen Gesicht schmierte sich unter dem tierischen Jubel der andern die Stiefel mit dem heiligen Öle, zerlumpte Schelme stolzierten in reichbestickten