Der alte Mann fühlte wieder tief jene Wundernähe, deren göttlicher oder irdischer Gedanke ihn nun seit Wochen umpreßte, ohne ihn freizugeben. Aber er wußte, daß dies eine dunkle und verschlossene Pforte war, vor der sich alles Sinnen demütig wieder wenden müsse, ohne mehr zu erringen, als einen ehrfürchtigen Kuß auf die versagte Schwelle. Und so griff er zum Pinsel, um mit Arbeit die Gedanken zu verjagen, die sich schon in düstre Wolkentiefen verloren. Wie er aber hinblickte, um der Wirklichkeit das Nachbild abzulauschen, blieb er für einen Augenblick gebannt. Denn ihm war, als sei er bisher mit seinem Suchen in einer Welt gegangen, die von Schleiern umhangen war, ohne daß er es wußte, und nun erst glühte sie ihm in ihrer unmittelbaren Kraft und Verschwendung entgegen. Vor seinen Augen lebte das Bild, das er gesucht. Mit leuchtenden Augen und haschenden Händen wandte sich das blühende gesunde Kind dem Lichte entgegen, das seinen nackten Körper mit einem mattschimmernden weichen Glanz übergoß und ihm so seraphischen Schein verlieh. Und über diesem spielenden Haupte ein zweites, das sich zärtlich betrachtend niederneigt und selbst gleichsam von dem Glanze erfüllt ist, den dieser helle lichterfüllte Körper ausstrahlt. Und schmale kindhafte Hände, die behütend zu beiden Seiten warten, um alles Unheil und Verderben von diesem Kinde abzuwehren. Und über dem Haupte ein flüchtiger Glanz, der sich in den Haaren verfangen hat und gleichsam von ihnen auszustrahlen scheint wie ein inneres Licht. Sanfte Bewegung, vereint mit tändelndem Licht, Unbewußtheit mit noch träumender Erinnerung, alles rann zusammen in ein flüchtiges und schönes Bild, das nur hingehaucht schien und aus gläsernen Farben geschaffen, die ein Augenblick jäher Bewegung zerschmettern kann.
Wie eine Vision sah der alte Mann dieses Paar, das ein flüchtiges Spiel des Lichtes so verschwistert hatte und gleichsam aus fernem Traume fiel ihm des italienischen Malers fast vergessenes Bild ein und seine Gottesmilde. Und wieder schien es ihm, als hörte er göttlichen Ruf. Aber diesmal verlor er sich nicht an Träume, sondern schenkte seine ganze Kraft dem Augenblick. Mit heftigen Zügen hielt er dies Bewegungsspiel dieser kindischen Hände und die sanfte Neigung dieses sonst so harten Mädchenhauptes fest, als wollte er sie der Vergänglichkeit des Momentes für immer entraffen, der sie zusammengefügt. Er fühlte Schöpferkraft in sich wie heißes junges Blut. Sein ganzes Leben war ein Rinnen und Rauschen, ein Einschlürfen des Lichtes und der Farbe in dieser Minute, ein Formen und Umfassen seiner zeichnenden Hand. Und in dieser Minute, da er dem Geheimnis göttlicher Kräfte und unbegrenzter Lebensfülle so nahe stand wie noch nie, da sann er nicht ihren Wundern und Zeichen nach, sondern lebte sie, indem er sie selbst erschuf.
Dieses Spiel währte nicht allzu lange. Das Kind ermüdete endlich bei dem unablässigen Haschen, und auch Esther war befremdet, wie sie den alten Mann plötzlich mit fieberhafter Glut und geröteten Wangen arbeiten sah; wieder war in seinem Antlitz die gleiche visionäre Helle, wie an dem Tage, da er von Gott und seinen tausendfältigen Wundern zu ihr gesprochen hatte, und wieder fühlte sie begeistertes Erschauern für die Größe, die sich so ganz in die schöpferischen Welten verlieren konnte. Und in dieses umfassende Gefühl verlor sich ganz die kleine Beschämung, daß sie der Maler in dem Augenblicke überrascht hatte, da sie ganz von dem Anblick des Kindes erfüllt war. Sie sah nur eine Fülle des Lebens; und die Vielfältigkeit und Größe solcher Momente ließen sie immer jenes Erstaunen wiederempfinden, das sie zuerst gefühlt, als ihr der Maler die Bilder ferner und unbekannter Menschen, traumhaft schöner Städte und üppiger Landschaften gezeigt hatte. Und die Armut ihrer eigenen Tage und der monotone Gleichklang ihrer seelischen Erlebnisse färbten sich am Rausche des Fremden und von der Pracht des Fernen. Aber eigene Schöpfersehnsucht brannte tiefinnerst in ihrer Seele, wie ein verborgenes Licht im Dunkeln, von dem niemand weiß.
Dieser Tag war eine Wende in Esthers und des Bildes Schicksal. Der Schatten war gesunken. Nun ging sie mit hellen und hastenden Schritten zu jenen Stunden, die ihr so flüchtig schienen, weil sie eine wechselnde Reihe kleiner Erlebnisse aneinander ketteten, deren jedes ihr bedeutsam war, da sie den Wert des Lebens nicht kannte und sich reich glaubte mit den kleinen kupfernen Münzen unwertiger Begebnisse. Unmerklich trat die Gestalt des alten Mannes in den Hintergrund gegen den unbehilflichen kleinen rosigen Körper des Kindes. Ihr Haß war jählings in eine wilde und fast gierige Zärtlichkeit umgeschlagen, wie sie Mädchen oft gegen Kinder und kleine Tiere haben. Ihr ganzes Wesen erschöpfte sich in Beobachtung und Liebkosung, unbewußt lebte sie den erhabensten Gedanken der Frau, die Mutterschaft, in einem hingebenden leidenschaftlichen Spiel. Der Zweck ihres Besuches entglitt ihr. Sie kam, setzte sich mit dem kleinen blühenden Kinde, das sie bald erkannte und das ihr drollig entgegenlachte, in den breiten Lehnstuhl und begann ihre innigen Tändeleien, ganz vergessend, daß sie um des Bildes willen gekommen und daß sie einst dieses nackte Kind wie einen Druck und eine Last empfunden hatte. Das schien ihr so ferne, wie einer ihrer unzähligen falschen und verlogenen Träume, die sie früher in der dunklen traurigen Gasse in langen Stunden emsig aneinander gesponnen hatte, und deren Gewebe zerflatterte beim ersten vorsichtigen Atemzuge der Wirklichkeit. Und nur in diesen Stunden glaubte sie auch jetzt noch zu leben; ihr Verweilen zu Hause war ihr eine Fremde, wie die Nacht, in die man schlafend hinabtaucht. Wenn sie mit ihren Fingern die dicken fleischigen Händchen des Kindes umfaßte, fühlte sie, daß dies kein blutloser Traum war. Und das Lächeln war keine Lüge, das ihr aus diesen blauen großen Augen entgegenblinzelte. Das war alles Leben, und sie verzehrte sich in einer inneren Gier nach Verschwendung an die Welt, die ein reiches und unbewußtes Erbteil ihres Stammes war und nach Hingebung, der fraulichen Sehnsucht, ehe sie noch Weib war. In diesem Spiel barg sich schon der Keim tieferen Verlangens und tieferer Lust. Aber noch war alles ein tändelnder Reigen zärtlicher Einfälle und inniger Bewunderung, spielender Anmut und