Der Abend kam in sein Zimmer und die Dunkelheit. Der alte Mann stand auf; er fühlte eine Unrast und ein Bangen in sich, wie selten in seinen späten Tagen, die sonst so lind waren wie kühle klärende Herbstsonne. Langsam entzündete er das Licht. Dann ging er hin zum Schrank und suchte ein altes Buch. Sein Herz war aller Unrast müde. Er nahm die Bibel, küßte sie mit bebender Inbrunst; dann schlug er sie auf und las bis in die späte Nacht…
Das Bild wurde begonnen. Esther saß nachdenklich zurückgelehnt in einem weichen, wohligen Lehnstuhle und hörte bald den erzählenden Worten des alten Malers zu, der ihr mit allerhand Geschichten aus seinem und anderer Leben die eintönigen Stunden gleichmäßigen Sitzens zu vertreiben suchte, bald träumte sie gelassen in die tiefe Stube hinein, deren Wände mit Gobelins, Bildern und Zeichnungen geschmückt immer wieder ihren Blick anzogen. Die Arbeit ging nicht rasch vonstatten. Der Maler fühlte, daß alle diese Studien, die er machte, nur Versuche seien und noch nicht die endgültige überzeugende Stimmung. Es fehlte ihm noch etwas in dem Gedanken seiner Skizzen, das er in Worten und Begriffen sich nicht klären konnte, tiefinnerlich jedoch mit solcher Deutlichkeit empfand, daß ihn oft eine fieberhafte Eile von Blatt zu Blatt trieb, die er dann genau miteinander verglich, immer aber unzufrieden, so getreulich seine Schöpfungen auch sein mochten. Zu Esther sprach er nicht davon. Aber es war ihm, als läge in ihrem harten Zuge, der sich selbst in den Augenblicken sanfter Träumerei nie ganz von ihren Lippen ablöste, ein Widerspruch gegen die milde Erwartung, die seine Madonna verklären sollte, als sei noch zuviel kindhafter Trotz in ihr, der noch nicht reif sei, die süße Schwere des Muttergedankens zu tragen. Er fühlte, daß Worte ihr nicht recht die Düsterkeit würden abringen können, daß sich nur von innen diese Härte würde mildern können. Aber diese weiche, frauliche Regung blieb ihrem Antlitz fern, wenn auch die ersten Frühlingstage ihr rotes Sonnengold durch alle Fensterritzen ins Zimmer warfen und die schöpferische Regung einer ganzen Welt verkündeten, wenn alle Farben auch weicher und tiefer zu werden schienen so wie die Luft, die warm durch die Gassen wallte. Schließlich ermattete der Maler. Der alte Mann war erfahren und kannte die Grenzen seiner Kunst, deren Überschreitung er nicht erzwingen konnte. Er gab den Plan auf, so wie er ihn gefaßt hatte, rasch und der lauten Stimme einer plötzlichen Intuition gehorchend. Und nachdem er die Möglichkeiten gegeneinander abgewogen hatte, entschloß er sich, in Esther nicht den Gedanken der Verkündigung zu malen, da ihr Antlitz nicht die Schauer der ersten Zeichen der gläubig erwachenden Weiblichkeit trug, sondern sie als Madonna mit dem Kinde zu schaffen, dem schlichtesten und tiefsten Symbole seiner Gläubigkeit. Und er wollte sogleich damit beginnen, denn die Verzagtheit begann sich wieder in seiner Seele einzufinden, da der Glanz der erträumten Wunder mählich und mählich mehr verblaßt war, ja schon fast in die schwere, lastende Dunkelheit gesunken. Und ohne Esther zu verständigen, löste er die Leinwand, die einige flüchtige Spuren voreiliger Versuche trug ab und setzte eine neue an ihre Stelle, wie er sich überhaupt mühte, dieser neuen Vorstellung in sich freien Weg zu bahnen.
Als Esther am nächsten Tage sich in gewohnter Weise niedergelassen hatte und sanft zurückgelehnt auf den Beginn der Arbeit wartete, die ihr gar nicht unwillkommen war, sondern in die Armut ihres einsamen Tages reiche Worte und freudige Minuten säte, hörte sie zu ihrer Überraschung die Stimme des Malers nebenan in freundlicher Wechselrede mit einer derben, bäuerlichen Frauenstimme, die sie nicht kannte. Neugierig horchte sie hin, ohne aber deutliches vernehmen zu können. Bald verstummte die Frauenstimme, eine Tür fiel ins Schloß und schon trat der alte Mann herein und auf sie zu, etwas Helles in den Armen tragend, das sie beim ersten Anblick nicht erkannte. Und vorsorglich legte er ihr ein kleines, nacktes, derbes Kind von mehreren Monaten in den Schoß, das sich anfänglich unruhig bewegte, dann aber unbeweglich blieb. Esther sah mit erstarrten Augen den alten Mann an, von dem sie so sonderbaren Scherz nicht erwartet hatte. Doch dieser lächelte nur und schwieg. Und als er sah, daß sich ihre ängstlich fragenden Blicke nicht von ihm abwenden wollten, erklärte er ihr ruhig und mit bittendem Tone seine Absicht, sie mit dem Kinde auf dem Schoße zu malen. Die ganze Herzlichkeit und Güte seiner Augen legte er in diese Bitte. Die tiefe väterliche Liebe, die er zu diesem fremden Mädchen gefaßt hatte und das innige Vertrauen auf ihr unruhiges und gläubiges Herz durchleuchteten seine Worte und noch sein beredtes Schweigen.
Esthers Gesicht war blutig überloht. Eine unbändige innere Scham zerquälte sie. Kaum wagte sie mit einem ängstlichen Seitenblick das kleine, blühende, nackte Kind zu betrachten, das sie auf ihren erzitternden Knieen widerwillig hielt. Die Strenge des ganzen Volkes, in dessen Abscheu der Nacktheit sie erzogen war, ließen sie dieses gesundfröhliche und jetzt ruhig schlummernde Kind mit Ekel und geheimer Furcht betrachten; sie, die unbewußt vor sich selbst ihre Nacktheit verhüllte, schauerte zurück vor der Berührung dieses weichen, rötlichen Fleisches wie vor einer Sünde. Eine Angst war in ihr, und sie wußte nicht, warum. Alle Stimmen in ihr streckten ängstlich ihre rufenden Arme aus, aber das harte, kurze Nein wollte nicht den milden begütigenden Worten dieses alten Mannes entgegen, den sie mit wachsender Liebe verehrte. Sie fühlte, daß sie ihm nichts verweigern konnte. Und sein Schweigen und die Frage seiner gespannt wartenden Blicke lasteten so schwer auf ihr, daß sie hätte aufschreien mögen, blind, tierisch, ohne Zweck und ohne Worte. Wahnsinnig packte sie der Haß gegen dieses ruhig schlummernde Kind, das in den Frieden ihrer einzig stillen Stunde hereingebrochen war und ihre träumerische Traulichkeit zerstörte. Aber sie fühlte sich schwach und wehrlos gegen die gütige Weise dieses alten geruhigen Mannes, der wie ein weißer, einsamer Stern über ihrem dunklen, tiefen Leben stand. Und wieder, wie zu jeder seiner Bitten, neigte sie demütig und verwirrt das Haupt.
Da sprach er nicht weiter, sondern machte sich daran das Bild zu beginnen. Zunächst zeichnete er nur den Umriß. Denn, um den inneren Gedanken seines Werkes darzustellen, war Esther noch viel zu unruhig und zu verwirrt. Der träumerische Ausdruck war gänzlich gewichen. In ihren Blicken lag etwas Krampfhaftes und Gezwungenes, weil sie es unausgesetzt vermied, dem Anblick des nackten schlafenden Kindes auf ihrem Schoße zu begegnen und in endloser stumpfer Wiederholung die Wandhöhe mit den ihr innerlich gleichgültigen Bildern und Zierraten fixierte. Auch in ihren Händen war dieser Ausdruck der Gezwungenheit und Steifheit von der Furcht aufgezwungen, sie möchte den Körper berühren müssen. Dazu fühlte sie die Last schwer auf den Knieen, ohne eine Regung zu wagen. Nur ein gespannter Zug in ihrem Gesichte verriet stärker und stärker die qualvolle Anstrengung, so daß der Maler schließlich selbst, obwohl er nicht ihren ererbten Abscheu, sondern nur mädchenhafte Scheu voraussetzte, ihr Unbehagen zu ahnen begann und die Sitzung unterbrach. Das Kind schlief ruhig weiter, wie ein sattes Tier, und merkte nichts, wie es der Maler mit sorgfältigen Händen von dem Schoße des Mädchens abhob und es im Nebenzimmer auf das Bett legte, wo es blieb, bis seine Mutter, eine derbe holländische Schiffersfrau, die für einige Zeit nach Antwerpen verschlagen war, es wieder abholte. Aber, ob man sie auch von der körperlichen Last befreit, fühlte sich Esther doch noch von dem Gedanken schwer bedrückt, daß Tag für Tag sie gleiche Bangigkeit erfüllen sollte.
Unruhig ging sie und unruhig kam sie wieder in den nächsten Tagen. Im geheimen hegte sie die Hoffnung, daß der Maler auch diesen Plan aufgeben würde und der Entschluß wurde drängender und überquellender, ihn mit einem ruhigen Worte darum zu bitten. Aber nie vermochte sie es; ein innerer Stolz oder eine geheime Scham hielten die Worte zurück, die schon auf ihren Lippen zuckten, so wie schwungbereite Vögel, die prüfend ihre Schwingen flattern lassen, bereit, sich im nächsten Augenblicke frei emporzustoßen in die Luft. Aber während sie Tag für Tag kam und ihre Unruhe gewissermaßen schon mit sich trug, wurde diese Scham nach und nach eine unbewußte Lüge, denn sie hatte sich schon damit vertraut gemacht, wie mit einer lästigen Selbstverständlichkeit. Es fehlte nur noch der Augenblick der Erkenntnis. Das Bild schritt inzwischen wenig fort, obwohl der Maler ihr es mit vorsichtigen Worten andeutete. In Wirklichkeit umfaßte sein Rahmen nur die leeren und unwichtigen Linien der Gestalten und ein paar flüchtige versuchende Tönungen. Denn der alte Mann wartete, bis Esther sich mit dem Gedanken ausgesöhnt hätte und suchte nicht zu beschleunigen, was er mit Sicherheit erhoffte. Vorläufig kürzte er nur die Stunden der Sitzungen und sprach viel von allerlei gleichgültigen Dingen,