Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht – oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn, teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden, innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-demokratischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise durchzusetzen.
Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen. Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend, die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine neue Aristokratie des Reichtums, weil sie großenteils selbst vermögend sind und hier die Unterschiede viel unmerklicher als bei uns ineinanderfließen. Das Brasilianische kennt nicht das Exklusive – dies seine eigentliche Kraft – und wie in der rassenmäßigen, so ist auch in der sozialen Schichtung der Assimilationsprozeß ein ständiger. Alle Tradition, alle Vergangenheit ist hier zu kurzfristig, als daß sie sich nicht willig und leicht in die neuen und erst werdenden Formen des Brasilianischen auflöste.
Auf diesen beiden Gruppen ruht, da die unterste Masse durch Analphabetismus und räumliche Isolierung an der Herausformung einer typisch brasilianischen Kultur noch nicht teilnimmt, sowohl im produktiven als auch im aufnehmenden Sinne der ganze individuelle Anteil Brasiliens an der Weltkultur. Um diese spezifische Leistung gerecht einzuschätzen, darf nicht vergessen werden, daß das ganze geistige Leben dieser Nation kaum viel mehr als hundert Jahre umfaßt und daß in den dreihundert kolonialen Jahren vordem jede Form des kulturellen Auftriebs systematisch unterdrückt worden war. Bis 1800 ist in diesem Land, das keine Zeitung und kein literarisches Werk drucken darf, das Buch eine Kostbarkeit, eine Rarität und außerdem meist eine Überflüssigkeit, denn man schätzt eher zu hoch als zu tief, wenn man annimmt, daß um 1800 unter hundert Menschen neunundneunzig Analphabeten einem einzigen gegenüberstanden, der lesen und schreiben konnte. Zuerst waren es noch die Jesuiten, die in ihren Colégios den Unterricht besorgten, bei dem sie selbstverständlich die Unterweisung in der Religion jeder Form der universellen und zeitgenössischen Bildung voranstellten. Mit ihrer Austreibung 1765 entsteht ein völliges Vakuum im öffentlichen Unterricht. Weder Staat noch Stadt denken daran, Schulen einzurichten. Eine besondere Steuer auf Lebensmittel und Getränke, die 1772 der Marquis de Pombal anordnet, um von diesem Ertrage Elementarschulen zu eröffnen, bleibt bloßes papiernes Dekret. Mit dem flüchtenden portugiesischen Hofe kommt 1808 die erste wirkliche Bibliothek ins Land, und um nach außen hin seiner Residenzstadt einen gewissen kulturellen Glanz zu geben, läßt der König Gelehrte herüberkommen und gründet Akademien und eine Kunstschule. Aber damit ist nicht viel mehr als eine dünngestrichene Fassade geschaffen; noch immer geschieht nichts Großzügiges, um systematisch die großen Massen in das doch recht bescheidene Geheimnis des Lesens, Schreibens und Rechnens einzuführen. Erst unter dem Kaiserreich beginnt man 1823 herumzuprojektieren, daß cada villa ou cidade tenha uma escola pública, cada província um liceu, e que se estabeleçam universidades nos mais apropriados locais. Aber es dauert noch vier Jahre, bis 1827 gesetzlich wenigstens die Minimalforderung festgelegt wird, in jeder größeren Ortschaft müsse eine Elementarschule vorhanden sein. Damit ist endlich der prinzipielle Ansatz zu einem Fortschritt gemacht, der jedoch nur im Schneckentempo fortschreitet. 1872 errechnet man, daß bei einer Bevölkerung von über zehn Millionen im ganzen nur 139.000 Kinder die Schule besuchen, und selbst in unseren Tagen, 1938, sah sich die Regierung noch vor die Notwendigkeit gestellt, ein eigenes Initiativkommittee zu gründen zwecks der endgültigen Ausrottung des Analphabetismus.
Der ersehnten Blüte einer eigenen Dichtung und Literatur fehlte also jahrhundertelang der richtige Humus, in dem sie zu wirklichem Wachstum gelangen konnte: das einheimische Publikum. Verse zu schreiben, Bücher zu verfassen bedeutete für einen Brasilianer bis knapp in unsere Zeit einen materiell aussichtslosen und wirklich heroischen Opferdienst an das dichterische Ideal, denn sie alle schufen und sprachen, sofern sie nicht dem Journalismus oder der Politik sich dienstbar machten, völlig ins Leere. Die großen Massen vermochten ihre Bücher nicht zu lesen, weil sie überhaupt nicht lesen konnten, und die obere dünne intellektuelle Schicht, die aristokratische, hielt es für wenig wichtig, ein brasilianisches Buch zu bestellen, und bezog ihre Lektüre an Romanen und Versen fast ausschließlich aus Paris. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch den Zustrom kulturgewohnter und darum kulturbedürftiger Elemente, durch die enorme Ausweitung der Bildung in der aufsteigenden Mittelklasse hier Wandel geschaffen worden, und mit der ganzen Ungeduld, wie sie nur lang zurückgehaltene Nationen haben, dringt die brasilianische Literatur in die Weltliteratur vor. Das Interesse an geistiger Produktion ist hier erstaunlich. Buchladen entsteht neben Buchladen, in Druck und Ausstattung verbessert sich die Herstellung ständig, belletristische und auch wissenschaftliche Werke können schon Auflageziffern erreichen, die vor einem Jahrzehnt noch als traumhaft gegolten, und schon beginnt die brasilianische Produktion die portugiesische zu überflügeln. Mehr als bei uns, wo der Sport und die Politik in gleich verhängnisvoller Weise die Aufmerksamkeit der Jugend ablenkt, steht die geistige und künstlerische Produktion im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Nation.
Denn der Brasilianer ist an sich durchaus geistig interessiert. Beweglichen Intellekts, rasch in der Auffassung und von Natur aus gesprächig, hat er als Portugiesenenkel die natürliche Freude an schönen sprachlichen Formen, die sich hier in Brief und Umgang in besonderen Höflichkeiten bewegen und im Rednerischen gern zum Überschwang neigen. Er liebt zu lesen; selten sieht man den Arbeiter, den Straßenbahnschaffner in einer freien Minute ohne eine Zeitung in der Hand, selten einen jungen Studenten ohne ein Buch. Dieser ganzen neuen Generation ist Schrift und Literatur nicht wie dem Europäer schon eine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit, ein überliefertes Erbe, sondern etwas selbst Errungenes, und sie finden noch einen Stolz und eine Freude darin, sich selbst und die ganze Weltliteratur zu entdecken. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß in diesen südamerikanischen Ländern mehr als in allen andern noch eine gewisse Ehrfurcht vor der geistigen Leistung besteht, und daß das zeitgenössische – auch dank der Billigkeit der Ausgaben – rascher und weiter sich in das Volk verbreitet wie bei den traditionsgebundenen Nationen. Durch die eingeborene Neigung des Brasilianers zu zarteren Formen hat die Poesie lange den Vorrang in der nationalen Literatur gehabt; mit den epischen Gedichten »Uruguai« und »Marília« beginnt die brasilianische Kultur des Verses, die wirklich hervorragende Persönlichkeiten zeitigt. Ein Lyriker kann hier noch wirklich populär werden. In allen Parks findet man wie im Parc Monceau und Luxembourg