Immer bewahrt der Brasilianer seine natürliche Weichheit und Gutartigkeit. Die allerverschiedensten Klassen begegnen sich untereinander mit einer Höflichkeit und Herzlichkeit, die uns Menschen des in den letzten Jahren arg verwilderten Europa immer wieder von neuem erstaunt. Man sieht auf der Straße zwei Männer sich begegnen; sie umarmen sich. Unwillkürlich denkt man, es seien Brüder oder Jugendfreunde, von denen einer gerade aus Europa oder von einer exotischen Reise zurückgekehrt sei. Aber an der nächsten Ecke sieht man wieder zwei Männer sich in dieser Art begrüßen und erkennt, daß die accolade zwischen Brasilianern eine durchaus selbstverständliche Sitte ist, ein Ausstrom natürlicher Herzlichkeit. Höflichkeit wiederum ist hier die selbstverständliche Grundform menschlicher Beziehung, und sie nimmt Formen an, die wir in Europa längst vergessen haben – bei jedem Gespräch auf der Straße behalten die Leute den Hut in der Hand, wo immer man eine Auskunft erbittet, wird einem mit begeistertem Eifer geholfen und in den höheren Kreisen das Ritual der Förmlichkeit mit Besuch und Gegenbesuch und Kartenabwerfen mit protokollarischer Genauigkeit erfüllt. Jeder Fremde wird auf das Zuvorkommendste empfangen und auf das Gefälligste ihm der Weg geebnet; mißtrauisch wie wir leider geworden sind gegen alles natürlich Humane, erkundigt man sich bei Freunden und neu Eingewanderten, ob diese offenbare Herzlichkeit nicht eine bloß formelle und formale sei, ob dieses gute, freundliche Zusammenleben ohne sichtbaren Haß und Neid zwischen Rassen und Klassen nicht eine Augentäuschung ersten oberflächlichen Eindrucks sei. Aber einstimmig hört man von allen als erste und wesentlichste Eigenschaft dieses Volkes rühmen, daß es von Natur aus gutartig sei. Jeder einzelne, den man befragt, wiederholt das Wort der ersten Ankömmlinge:
É a mais gentil gente. Nie hat man hier von Grausamkeit gegen Tiere gehört, nie von Stierkämpfen oder Hahnenturnieren, nie hat selbst in den dunkelsten Tagen die Inquisition ihre Autodafés der Menge dargeboten; alles Brutale stößt den Brasilianer instinktiv ab, und es ist statistisch festgestellt, daß Mord und Totschlag fast niemals als geplante und vorausbedachte Tat geschehen, sondern immer spontan als
crime passional, als ein plötzlicher Ausbruch von Eifersucht oder Gekränktheit. Verbrechen, die an List, Berechnung, Raubgier oder Raffiniertheit gebunden sind, gehören zu den größten Seltenheiten; es ist nur wie ein Nervenriß, ein Sonnenstich, wenn ein Brasilianer zum Messer greift, und mir selbst fiel es auf, als ich die große
Penitenciêria in São Paulo besuchte, daß der eigentliche in der Kriminologie genau verzeichnete Verbrechertypus völlig fehlte. Es waren durchaus sanfte Menschen mit stillen, weichen Augen, die irgendeinmal in einer überhitzten Minute etwas begangen haben mußten, von dem sie selber nicht wußten. Aber im allgemeinen – und dies bestätigte jeder Eingewanderte – liegt jede Gewalttätigkeit, alles Brutale und Sadistische auch in den unmerklichsten Spuren dem brasilianischen Menschen vollkommen fern. Er ist gutmütig, arglos, und das Volk hat jenen halb kindlich-herzlichen Zug, wie er dem Südländer oft zu eigen ist, aber doch selten in einem so ausgesprochenen und allgemeinen Maß wie hier. In all den Monaten bin ich hier keiner Unfreundlichkeit begegnet, nicht oben und nicht unten; überall konnte ich den gleichen – heute so seltenen – Mangel an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder Andersklassigen feststellen. Manchmal, wenn ich in den
favelas, diesen prachtvoll pittoresken Negerhütten, die auf den Felsen mitten in der Stadt wie schwanke Vogelhäuschen liegen, neugierig herumkletterte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und schlimmes Vorgefühl. Denn schließlich war ich gekommen, mir als Neugieriger eine unterste Stufe der Lebenshaltung anzusehen und in diesen jedem Blick wehrlos offenstehenden Lehm-oder Bambushütten Menschen im primitivsten Urzustand zu beobachten und somit unbefugt in ihre Wohnungen und damit in ihr privatestes Leben hineinzuschauen; im Anfang war ich eigentlich ständig gewärtig, etwa wie in einer proletarischen Arbeitergegend in Europa, einen bösen Blick ins Auge oder ein Schimpfwort in den Rücken zu bekommen. Aber im Gegenteil, diesen Arglosen ist ein Fremder, der sich in diesen verlorenen Winkel bemüht, ein willkommener Gast und beinahe ein Freund; mit blinkenden Zahnreihen lacht der Neger, der einem wassertragend begegnet, einem zu und hilft einem noch die glitschigen Lehmstufen empor; die Frauen, die ihre Kinder säugen, sehen freundlich und unbefangen auf. Und ebenso begegnet man in jeder Straßenbahn, auf jedem Ausflugsschiff, gleichgültig ob man einem Neger, einem Weißen oder Mischling gegenübersitzt, der gleichen unbefangenen Herzlichkeit. Niemals ist innerhalb der Dutzende Rassen etwas von Absonderung gegeneinander zu entdecken, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Das schwarze Kind spielt mit dem weißen, der Braune geht mit dem Neger selbstverständlich Arm in Arm, nirgends gibt es Einschränkung oder auch nur privaten Boykott. Beim Militär, in den Ämtern, auf den Märkten, in den Büros, in den Geschäften, in den Arbeitsstätten denken die einzelnen nicht daran, sich nach Farbe oder Herkunft zu schichten, sondern arbeiten friedlich und freundlich zusammen. Japaner heiraten Negerinnen und Weiße wiederum Braune: das Wort »Mischling« ist hier kein Schimpfwort, sondern eine Feststellung, die nichts Entwertendes in sich hat: der Klassenhaß und Rassenhaß, diese Giftpflanze Europas, hat hier noch nicht Wurzel und Boden gefaßt.
Diese ungemeine Zartheit des Seelischen, diese vorurteilslose und arglose Gutartigkeit, diese Unfähigkeit zur Brutalität büßt der Brasilianer mit einer sehr starken und vielleicht überstarken Empfindlichkeit. Nicht nur sentimental, sondern auch sensitiv veranlagt, besitzt jeder Brasilianer ein besonderes leicht verletzbares Ehrgefühl und zwar ein Ehrgefühl besonderer Art. Gerade weil er selbst so besonders höflich und persönlich bescheiden ist, empfindet er jede und auch die unbeabsichtigtste Unhöflichkeit sofort als Mißachtung. Nicht daß er heftig reagiert wie etwa ein Spanier oder Italiener oder ein Engländer; er schweigt die vermeintliche Kränkung gleichsam in sich hinein. Immer wieder wird einem dasselbe erzählt: in einem Hause ist eine Angestellte, schwarz oder weiß oder braun; sie ist sauber, freundlich und still und gibt nicht den geringsten Anlaß zu einer Beschwerde. Eines Morgens ist sie verschwunden, die Hausfrau weiß nicht warum und wird es nie erfahren. Sie hat ihr vielleicht gestern ein leises Wort des Tadels, der Unzufriedenheit gesagt und mit diesem einen kleinen oder vielleicht zu lauten Wort, ohne es zu ahnen, das Mädchen tief gekränkt. Das Mädchen revoltiert nicht, beschwert sich nicht, sucht keine Auseinandersetzung. Still packt sie ihre Sachen und geht lautlos fort. Es ist nicht in der Art des brasilianischen Menschen, sich zu rechtfertigen oder Rechtfertigung zu fordern, sich zu beschweren oder zornig auseinanderzusetzen. Er zieht sich nur in sich selbst zurück; es ist seine natürliche Gegenwehr, und diesem stillen, geheimnisvoll schweigsamen Trotz begegnet man hier überall. Niemand wird, wenn man einmal eine Einladung oder Aufforderung auch in allerhöflichster Form abgelehnt hat, sie wiederholen, kein Verkäufer in einem Geschäft, wenn man mit dem Ankauf zögert, mit einem weiteren Wort zureden, und dieser geheime Stolz, diese Empfindlichkeit des Ehrgefühls reicht hinab bis in die untersten und alleruntersten Schichten. Während man in den reichste Städten der Welt, in London und Paris und gar in den Südländern überall Bettler findet, fehlen sie in diesem Lande, wo die »nackte Armut« oft kaum mehr ein Wort der Übertreibung ist, fast vollkommen und dies nicht etwa infolge eines energischen Dekrets, sondern aus der dem ganzen Volke eigenen Hypertrophie der Empfindlichkeit, die auch die höflichste Zurückweisung noch als Kränkung empfindet.
Diese Zartheit des Gefühls, diese Abwesenheit jeder Vehemenz will mir vielleicht als die charakteristischste Eigenschaft des brasilianischen Volkes erscheinen. Die Menschen brauchen hier keine heftigen und gewaltigen Spannungen, keine sichtbaren und ausnutzbaren Erfolge, um zufrieden zu sein. Es ist kein Zufall, daß der Sport, der doch im letzten die Leidenschaft des sich gegenseitig Überholens und Übertreffens darstellt, die ein gut Teil der Verrohung und Entgeistigung unserer Jugend verschuldet, in diesem Klima, das mehr zur Ruhe und zu behaglichem Genießen lockt, nicht jene absurde Überwichtigkeit gewonnen hat, und daß jene wüsten Szenen und tollwütigen Erregungen völlig fehlen, wie sie in unseren sogenannten zivilisierten Ländern an der Tagesordnung sind. Was Goethe auf seiner ersten Italienreise bei den Südländern so sehr sympathisch erstaunte, daß sie nicht ununterbrochen materielle oder metaphysische Zwecke des Lebens suchten, sondern sich des Lebens an sich auf stille und oft lässige Weise freuen, ist hier immer wieder von neuem dankbar zu empfinden. Die Menschen wollen hier nicht zu viel, sie sind nicht ungeduldig. Nach der Arbeit oder zwischen der Arbeit ein bißchen plaudern, Kaffee trinken, frisch rasiert und mit gutgeputzten Schuhen zu flanieren, an seinem Haus, an seinen Kindern seine gute Freude zu haben, ist den meisten genug. Alle Zustände des Behagens, des Glücks sind mit dieser friedlichen Gelassenheit gemischt. Darum ist und war es von je verhältnismäßig so leicht, dieses Land zu regieren, darum brauchte Portugal so wenig