»Und des Herren Wort geschah zu mir und sprach: ›Wenn ich ein Schwert über das Land führen würde und das Volk im Lande nähme einen Mann unter sich und machete ihn zum Wächter, und er sähe das Schwert kommen und warnete nicht das Volk, und das Schwert käme und nähme etliche weg, deren Blut will ich von des Wächters Hand fordern.‹«
Hesekiel XXXIII, 1.
Auf der Umwallung Jerusalems. Die Mauern, breite, behauene Quadern, laufen als Straße rings um die Stadt. Rückwärts der sternenbesäete Himmel und dämmerig fern das Tal mit Lichtern und ungewissen Flächen. Strahlendes Mondlicht kleidet die Wälle wie blinkendes Erz.
Auf den Mauern schreiten zwei Krieger die Wache auf und ab. Ihre Gesichter sind verschattet von den Helmen, auf ihren Lanzen schimmert das Mondlicht.
Einige wenige Neugierige haben sich trotz der nahen Mitternachtsstunde auf die Mauer gewagt und spähen in die ungewisse Ferne.
EINE FRAU:
Es ist Schlafenszeit. Füll dir nicht das Herz mit Bangnis. Frühe genug siehst du sie morgen, die Verfluchten. Komm schlafen, es ist vielleicht das letzte Schlafen in Stille.
EIN MANN:
Wie schlafen können, wie schlafen, da sie wach sind, unsere Feinde, wider uns! Schwerer denn Blei ward mir das Herz, seit ich hier stehe, und kann doch nicht fort – wie in einen Abgrund muß ich starren in die Flut, die aufsteigt, uns zu schlingen! Von Mitternacht kamen die Reiter und dann von Abend her, immer meinte man, es müsse zu Ende sein, und immer zogen ihrer noch mehr, als wären Länder ausgeschüttet wie Korn und die Lanzen wie Halme gesäet.
EIN ANDERER:
Schon haben sie Zelte gespannt, ein weißer Wald ist aufgestanden im Tal.
EIN ANDERER:
Wehe, sie wollen verweilen.
EIN ANDERER:
Wie der Wind müssen sie gekommen sein. Gestern waren ihre Reiter noch in Bethul, und heute gürten sie Zion schon ein.
DER ERSTE:
Furchtbar ist Assur. Gott möge uns schützen.
DAS WEIB:
Das Lichte sieh drüben, wie eine Säule ist es, die zum Himmel fährt.
EINER:
Samaria ist dort!
EIN ANDERER:
Eine Feuersäule ist es, die gen Himmel fährt. Sie haben Samaria genommen!
STIMMEN:
Wehe!… es ist nicht möglich… eine Feste ist Samaria, dreifach gegürtet!… ein Rasender bist du… Samaria ist es… ich sehe es… wehe… es ist nicht möglich…
EINER:
Sie haben Widder, gewaltige Böcke von Holz, mit denen sie die Mauern berennen. Ich habe gehört von ihren Schleudern, die Türme zerschmeißen…
EIN ANDERER:
Wehe… Unsere Türme… Jerusalem… Jerusalem…
EIN ANDERER:
Dort drüben sieh… dort drüben… eine neue Säule, rot greift sie den Himmel hinan… Gilgal ist das…
EIN ANDERER:
Meine Heimat… meiner Kinder Haus…
EIN ANDERER:
Mordbrenner sind sie… Fluch über Assur…
DER ERSTE:
Mizpah haben sie vertilgt und Saron… wie ein Sturm sind sie über das Land gefahren… furchtbar ist Assur in seinem Zorne.
EIN ANDERER:
Nie hätten wir Streit beginnen sollen mit ihnen.
STIMMEN:
Wer hat ihn begonnen… nicht wir… ich nicht… der König… die Priester… wir wollten in Frieden leben mit ihnen…
EINER:
Ägypten hat uns verlockt und verraten.
STIMMEN:
Ja, Ägypten… der Pharao… Fluch Pharao… sie haben uns verkauft… verlassen haben sie unser Elend… wo sind sie, die fünfzigtausend Bogenschützen… allein sind wir nun… verloren…
EINER:
Wehe… Jerusalem, Jerusalem… Deinen Feinden bist du gegeben, und deine Neider blecken die Zähne…
DER ERSTE KRIEGER (zornig dreinfahrend):
Fort da! Was wärmt ihr die Mauer! Geht heim zu euern Weibern und schlaft. Wir wachen für euch!
EINER:
Wir wollen schauen, wie…
DER ERSTE KRIEGER:
Nichts zu schauen! Ihr habt geschrien um sie mit vollen Backen und Assur gefordert, nun ist Assur gekommen. Lasset den Kriegern, sie heimzujagen, ihr aber geht und schlaft oder betet, so ihr nicht schlafen könnt.
EINER:
Aber sage uns…
DER ERSTE KRIEGER:
Nichts zu sagen. Der Worte sind schon zu viel, jetzt haben die Fäuste ihr Maul. Fort… Herunter mit euch…
(DIE BEIDEN KRIEGER stoßen mit ziemlicher Gewalt die Neugierigen von der Mauer zurück. Die Fortgedrängten verschwinden im Dunkel der Stufen, die zum Walle emporsteigen und tief verschattet sind. Es ist jetzt ganz still oben. Die beiden Krieger stehen wie Erzgestalten im weißen Mondlicht.)
DER ERSTE KRIEGER:
Wie verzagt das Volk schon ist, kaum daß sie die ersten Lanzen erblickten. Man darf es nicht dulden, daß sie so reden.
DER ZWEITE KRIEGER:
Wenn man Angst hat und ihrer nicht Herr wird, muß man reden. Es hilft nicht und hilft doch.
DER ERSTE KRIEGER:
Sie sollen schlafen und nicht schwätzen.
DER ZWEITE KRIEGER:
Der Schlaf ist nicht der Menschen Knecht. Er läßt sich nicht befehlen an der Sorgen Bett. Viel offene Lider schauen heute den Mond.
DER ERSTE KRIEGER:
So sollen sie schweigen, die kein Schwert führen. Wir wachen für alle.
(DIE BEIDEN KRIEGER schweigen und gehen auf und ab. Ihre Schritte hallen dumpf, ihre Speere funkeln im Mondlicht.)
DER ZWEITE KRIEGER (bleibt stehen):
Hörst du?
DER ERSTE KRIEGER:
Was soll ich hören?
DER ZWEITE KRIEGER:
Es ist ganz still, und doch tönt es, wenn der Wind sich wider uns hebt. Als ich in Joppe war, hört ich zum erstenmal das Meer von fern in der Nacht. Solch Tönen ist nun im Tal von Tausender Gegenwart, leise sind alle, und doch rollet von Rädern und Waffen die Luft. Ein ganzes Volk muß es sein, das plötzlich über Israel fiel, wie ein Meer rauscht es dumpf an die Mauern.
DER ERSTE KRIEGER (hart):
Ich will nichts hören als den Wachtruf. Laß rollen, laß rauschen!
DER ZWEITE KRIEGER:
Warum wirft Gott die Völker gegeneinander? Es ist doch so viel Raum unter dem Himmel, daß einer nicht störte den andern. Viel Land noch harrt der Pflugschar, viele Wälder des Beiles, und doch schärfen sie Schwerter aus den Pflügen und schlagen in lebendiges Fleisch mit den Äxten. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es nicht!
DER ERSTE KRIEGER:
Von jeher war es so.
DER ZWEITE KRIEGER:
Aber muß es so sein? Warum will