Nach dieser Schilderung können Sie sich nun schon selbst Antwort geben; es wäre viel Verachtung, mich nicht für glücklich zu halten, wenn ich so viel Ursache habe, es zu sein [Wahrscheinlich hatte, sie das unselige Geheimniß noch nicht entdeckt, welches in der Folge so quält, oder sie wollte es ihrem Freunde noch nicht anvertrauen.]. Ich habe lange in dem Irrthume gelebt, und Sie hegen ihn vielleicht noch, daß Liebe vorhanden sein müsse, wenn eine glüchliche Ehe zu Stande kommen solle. Es ist nicht so, mein Freund: Rechtschaffenheit, Tugend, ein gewisses für einander Passen, weniger dem Stande und Alter als dem Charakter und der Gemüthsart nach, dies ist zwischen Gatten genug, und schließt nicht aus, daß nicht aus solcher Verbindung eine sehr zärtliche Anhänglichkeit entspringe, die, wenn auch nicht gerade Liebe, doch deshalb nicht weniger süß, und nur desto dauerhafter ist. Die Liebe hat in ihrem Gefolge stets eine Unruhe, entweder der Eifersucht oder der Entbehrung,
dergleichen nicht in die Ehe paßt, da diese ein Zustand des friedlichen Genusses ist. Man heiratet sich nicht, um unaufhörlich an einander zu denken, sondern um gemeinschaftlich die Pflichten des bürgerlichen Lebens zu erfüllen, klug das Haus zu verwalten, seine Kinder gut zu erziehen. Liebende haben nur immer sich vor Augen, beschäftigen sich unaufhörlich nur mit sich, und das Einzige, was sie können, ist, sich liebhaben. Das ist für Ehegatten nicht genug, die ganz andere Sorgen haben. Es giebt keine Leidenschaft, die uns so arg verblendete als die Liebe: man nimmt ihre Heftigkeit für einen Beweis ihrer Dauerhaftigkeit; das Herz dehnt, so zu sagen, das Gefühl, von dem es übervoll ist, auf die Zukunft aus, und solange die Liebe währt, meint man, sie werde nie enden. Aber gerade ihre Hitze ist das, was sie aufzehrt; sie nutzt sich mit der Jugend ab, sie welkt mit der Schönheit hin, sie erstirbt unter dem Eise des Alters, und solange die Welt steht, hat man noch nicht ein liebendes Paar in weißen Haaren um einander girren sehen. Man muß also darauf rechnen, daß man früher oder später einmal aufhören werde, sich anzubeten; dann, nachdem das Götzenbild, dem man diente, zerstört ist, sieht man sich gegenseitig so, wie man ist. Man sucht mit Erstaunen den Gegenstand, den man liebte; da man ihn nicht findet, faßt man einen Widerwillen gegen den, der geblieben ist, und oft macht ihn die Einbildungskraft nicht weniger häßlich, als sie ihn zuvor schön gemacht hatte. Es gieb, wenig Menschen, sagt La Rochefoucauld, die sich nicht ihrer Liebe schämten, wenn es mit der Liebe vorbei ist [Bei jedem anderen Anlaß würde ich mich wundern, daß Julie La Rochefoucauld kennt und anführt; sein trauriges Buch wird guten Leuten nie munden.]. Wie sehr ist alsdann zu fürchten, daß allzu lebhaften Gefühlen Ueberdruß folge, daß die Abnahme derselben nicht bei Gleichgültigkeit stehen bleibe, sondern bis zur Abneigung fortgehe, bis zuletzt gänzlich einer des andern satt ist, und daß Die, welche sich als Liebesleute zu sehr liebten, als Gatten einander hassen. Mein lieber Freund, Sie haben mir stets sehr liebenswürdig geschienen, viel zu sehr für meine Unschuld und für meine Ruhe; aber ich habe Sie immer nur verliebt gekannt: weiß ich, wie Sie sein würden, wenn Sie es nicht mehr wären? Ich gebe zu, mit der Liebe würde in Ihnen nicht die Tugend erstorben sein, aber ist das genug, um glücklich zu sein in einem Bande, welches das Herz knüpfen soll? und wie viele tugendhafte Menschen giebt es nicht, die deswegen doch unerträgliche Ehemänner sind! In dieser Hinsicht können Sie ganz dasselbe von mir sagen.
Was nun Herrn von Wolmar betrifft, so ist keiner von uns beiden durch irgend eine Illusion für den anderen eingenommen: wir sehen uns so, wie wir sind; das Gefühl, welches uns vereinigt, ist nicht der blinde Aufruhr leidenschaftlicher Herzen, sondern die unerschütterliche, beständige Anhänglichkeit zweier rechtschaffenen und vernünftigen Personen, welche, bestimmt mit einander zu leben, zufrieden sind mit ihrem Loose, und es sich einander angenehm zu machen suchen. Mich dünkt, wir hätten nicht besser zu einander passen können, wenn wir ausdrücklich für einander geschaffen wären. Wenn sein Herz ebenso zärtlicher Natur wäre, wie das meinige, würde es unmöglich sein, daß nicht so viel Empfindlichkeit von beiden Seiten bisweilen gegen einander stieße und Zwist daraus entspränge. Wenn ich so ruhig wäre wie er, würde zu viel Kälte zwischen uns, und der Umgang nicht so angenehm und süß sein. Wenn er mich nicht liebte, würden wir schlecht mit einander leben; wenn er mich zu sehr geliebt hätte, würde er mir lästig geworden sein. Jeder von beiden ist gerade so, wie er dem Anderen nöthig ist; er klärt mich auf, und ich rege ihn an; wir sind verbunden beide mehr werth, und es scheint, daß wir bestimmt sind, unter uns nur Eine Seele auszumachen, deren Urtheilskraft er ist, während ich ihr Wille bin. Da ist nichts, selbst sein reifes Alter eingerechnet, was nicht zu gemeinsamem Vortheil ausschlüge; denn sicher würde ich bei der Leidenschaft, welche mich marterte, ihn, wenn er jünger gewesen wäre, noch unlieber geheiratet haben, und die Heftigkeit meines Widerstrebens würde dann vielleicht den glücklichen Umschwung verhindert haben, den ich in mir erlebte.
Freund, der Himmel erleuchtet die Wohlmeinung der Väter und belohnt die Folgsamkeit der Kinder. Gott verhüte, daß ich Ihrem Mißvergnügen Hohn sprechen wolle! Nur der Wunsch, Sie über mein Schicksal vollkommen zu beruhigen, treibt mich an, noch das hinzuzufügen, was ich jetzt sagen will. Wenn ich mit den Gefühlen, die ich ehedem für Sie hegte, und mit der Einsicht, die ich jetzt gewonnen habe, volle Macht und Freiheit hätte, mir meinen Gatten zu wählen, so würde ich, — der Gott, der mich erleuchtet hat und in meinem Herzen liest, ist mein Zeuge — ich würde nicht Sie wählen, sondern Herrn von Wolmar.
Es dient vielleicht zu Ihrer völligen Heilung, daß ich nichts von dem zurückhalte, was ich noch auf dem Herzen habe. Herr von Wolmar ist älter als ich. Wenn der Himmel, zur Strafe für meine Fehltritte, mir den würdigen Gatten nähme, den ich so wenig verdient habe, so ist mein fester Entschluß, nie einen Andern zu heiraten. Wenn er nicht das Glück gehabt hat, ein keusches Mädchen zu finden, wird er wenigstens eine keusche Witwe zurücklassen. Sie kennen mich zu gut, um zu glauben, daß ich die Frau sei, die, wenn sie eine solche Erklärung abgegeben hat, sie wieder zurücknähme [Unsere Lage ist, ohne daß wir es wollen, vom größten Einflüsse auf das, was unser Herz bewegt: wir werden lasterhaft und schlecht, jenachdem uns unsere Interessen dazu verleiten, und leider dienen die Fesseln, die uns drücken, dazu, die Masse solcher Interessen zu vergrößern. Wenn wir Anstrengungen machen, die Unordnungen unserer Begierden zu schlichten, so ist es fast immer vergeblich und selten das Rechte. Was abgestellt werden muß, ist weniger die Begierde, als die Lage, der sie ihren Ursprung verdankt. Wenn wir gut werden wollen, so müssen wir die Verhältnisse beseitigen, welche uns daran verhindern: es giebt kein anderes Mittel Ich möchte um Alles in der Welt nicht ein Anrecht auf die Beerbung irgend eines Menschen haben, besonders eines solchen, der mir theuer sein muß, denn weiß ich, was für einen furchtbaren Wunsch mir eigene Dürftigkeit ablocken könnte? Nach diesem Grundsatze möge man Juliens Entschluß prüfen, sowie die Mittheilung, welche sie davon ihrem Freunde macht. Man erwäge sorgfältig die obwaltenden Verhältnisse, und man wird sehen, wie ein redliches Herz, im Zweifel an sich selbst, sich nöthigenfalls jedes der Pflicht widerstreitende Interesse aus dem Wege zu räumen, sucht. Julie macht hier, trotz der Liebe, deren sie nicht ledig geworden, ihre Sinnlichkeit zum Bundesgenossen ihrer Tugend, zwingt sich gewissermaßen, Wolmar als ihren alleinigen Gatten zu lieben, als den einzigen Mann, dem sie zeitlebens beiwohnen wird; sie verwandelt das geheime Interesse, welches sie an seinem Verluste haben könnte, in ein Interesse an seiner Erhaltung. Entweder ich verstehe mich nicht auf das menschliche Herz, oder es ist gerade dieser vielgetadelte Entschluß, welcher für Juliens ganzes Leben der Tugend den Sieg sichert, und ihr die aufrichtige und unwandelbare Anhänglichkeit, die sie ihrem Manne bis an ihr Ende bewahrt.].
Was ich gesagt habe, um Ihre Zweifel zu heben, kann auch dazu dienen, Ihre Einwürfe gegen das Bekenntniß, welches ich meinem Manne schuldig zu sein glaube, zum Theil zu beseitigen. Er ist zu verständig, um einen demüthigenden Schritt, den mir nur die Reue abgewinnen kann, mich büßen zu lassen, und ich bin ebensowenig fähig, jene Frauenlist, von der Sie sagten, anzuwenden, als er, sie mir zuzutrauen. Der Grund, den Sie anführen, weshalb das Geständniß nicht nöthig sei, ist sicherlich eine Sophisterei, denn obgleich man zu nichts verbunden ist gegen einen Guten, den man noch nicht hat, erlangt man doch dadurch nicht die Berechtigung, sich ihm für etwas Anderes zu geben, als man ist. Ich habe das gefühlt, auch schon vor meiner Verheiratung, und wenn das Gelübde, das mir mein Vater abgedrungen hat, mich verhinderte, in dieser Hinsicht meine Pflicht zu erfüllen, so bin ich deshalb um so strafbarer, weil es