Je weniger aber die Armee ihre Rekruten aus der Herrennation ziehen konnte und je seltener und kostbarer die Soldaten wurden, desto mehr mußte die Friedensliebe Roms steigen, nicht wegen eines Umschwunges seiner Ethik, sondern aus sehr materiellen Gründen. Es mußte seine Soldaten schonen, es konnte aber auch die Reichsgrenzen nicht mehr erweitern, denn es mußte froh sein, wenn es genug Soldaten auftrieb, um die gegebene Grenze zu schützen. Gerade zu der Zeit, in die Jesu Leben verlegt wird, unter Tiberius, kommt die römische Offensive im wesentlichen zum Stillstand. Von da an bestrebt sich das römische Reich immer mehr, sich der Feinde zu erwehren, die es bedrängen. Und diese Bedrängnis nimmt gerade von da an immer mehr zu, denn je mehr Ausländer, namentlich Germanen, in den Heeren Roms dienten, desto mehr lernten dessen barbarische Nachbar Roms Reichtum und Kriegskunst, aber auch Roms Schwäche kennen und desto mehr regte sich in ihnen die Lust, nicht als Besoldete und Diener, sondern als Eroberer und Herren in das Reich einzudringen. Statt Menschenjagden nach den Barbaren zu unternehmen, sahen sich die Herren Roms bald gezwungen, sich vor den Barbaren zurückzuziehen oder deren Schonung zu erkaufen. So hörte im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung der Zustrom billiger Sklaven rasch auf. Immer mehr wurde man auf die Züchtung von Sklaven angewiesen.
Das war aber ein sehr kostspieliges Verfahren. Die Sklavenzüchtung lohnte sich nur bei Haussklaven höherer Art, die qualifizierte Arbeit zu verrichten hatten. Mit gezüchteten Sklaven die Latifundienwirtschaft fortzuführen, war unmöglich. Die Anwendung von Sklaven in der Landwirtschaft hörte immer mehr auf und auch der Bergbau ging zurück, zahlreiche Gruben wurden unrentabel, sobald die kriegsgefangenen Sklaven ausblieben, die man nicht zu schonen brauchte.
Aber aus dem Verfall der Sklavenwirtschaft erstand keine neue Blüte der Bauernschaft. Dazu fehlte ein Geschlecht zahlreicher, ökonomisch kraftvoller Bauern, das verhinderte auch das Privateigentum am Grund und Boden. Die Latifundienbesitzer waren nicht gewillt, ihren Besitz aufzugeben. Aber sie schränkten ihre Großbetriebe ein. Einen Teil ihres Bodens verwandelten sie in kleine Pachtgüter, die sie an Pächter, Kolonen, ausgaben unter der Bedingung, daß diese einen Teil ihrer Arbeitskraft dem Hofe des Grundherrn widmeten. So entstand jenes System der Bodenbewirtschaftung, zu dem auch später in der Feudalzeit die großen Grundherren immer wieder hinstrebten, bis der Kapitalismus es durch das kapitalistische Pachtsystem verdrängte.
Die Arbeitskräfte, aus denen sich die Kolonen rekrutierten, waren teils ländliche Sklaven und verkümmerte Bauern, teils auch Proletarier, freie Handwerker und Sklaven der Großstädte, die dort keine Existenz mehr fanden, seitdem die Einkommen aus der Sklavenwirtschaft im Landbau und dem Bergbau zurückgingen, so daß die Freigebigkeit und das Genußleben der Reichen eingeschränkt wurden. Dazu dürften sich später noch Bewohner der Grenzprovinzen gesellt haben, die von den vordringenden Barbaren aus ihrem Besitz vertrieben wurden und in das Innere des Reiches flohen, wo sie als Kolonen Unterkunft fanden.
Aber diese neue Produktionsweise konnte den ökonomischen Verfall nicht aufhalten, der aus dem Ausbleiben der Sklavenzufuhr hervorging. Auch sie blieb technisch hinter der freien Bauernwirtschaft zurück und war ein Hindernis weiterer technischer Entwicklung. Die Arbeit, die der Kolone auf dem Gutshof zu leisten hatte, blieb Zwangsarbeit, mit derselben Unwilligkeit und Lässigkeit, mit derselben Mißachtung für Vieh und Werkzeuge betrieben, wie die Sklavenarbeit. Dabei erlangte der Kolone freilich auch einen eigenen Betrieb für sich, aber dessen Ausdehnung war ihm so karg zugemessen, daß er nicht zu üppig wurde, daß sie ihm gerade nur die Fristung des Lebens ermöglichte. Der in Naturalien gezahlte Pachtzins wurde dafür so hoch angesetzt, daß der Kolone alles, was er über den dürftigsten Lebensunterhalt hinaus produzierte, dem Herrn ablieferte. Das Elend der Kolonen konnte sich ungefähr mit dem der Zwergpächter Irlands messen oder mit dem der Landleute des heutigen Süditalien, wo eine ähnliche Produktionsweise fortbesteht. Aber für die agrarischen Gegenden von heute ist wenigstens das Sicherheitsventil der Auswanderung in Gegenden mit industriellem Aufchwung eröffnet. Dies fehlte für die Kolonen des römischen Reiches. Die Industrie diente damals nur in geringem Maße der Produktion von Produktionsmitteln, vornehmlich der von Genußmitteln des Luxus. Mit den Überschüssen der Besitzer von Latifundien und Bergwerken ging auch die Industrie in den Städten zurück, deren Bevölkerung nahm rapid ab.
Gleichzeitig verminderte sich aber auch die Bevölkerung des flachen Landes. Die Zwergpächter konnten keine großen Familien erhalten. Der Ertrag ihrer Betriebe reichte in normalenZeiten eben hin, sie notdürftig zu ernähren. Mißernten fanden sie ohne Vorräte oder Geld, sich das Fehlende zu kaufen. Da mußten Hunger und Elend besonders stark wüten und die Reihen der Kolonen lichten, namentlich die ihrer Kinder. Wie seit einem Jahrhuudert die Bevölkerung Irlands immer mehr abnimmt, so verringerte sich auch die des römischen Reiches.
„Es ist sehr begreiflich, daß sich die Ursachen wirtschaftlicher Art, die im ganzen römischen Reiche die Abnahme der Bevölkerungszahl herbeiführten, in Italien besonders fühlbar machten, und am stärksten wieder in Rom. Wenn man Zahlen anführen soll, so mag man annehmen, daß die Stadt zur Zeit des Augustus ungefähr die Million erreicht hat und sich die Bevölkerungszahl im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit ungefähr gleich geblieben, dann in der Zeit der Severe auf etwa 600.000 zurückgegangen ist; dann ist die Einwohnerzahl rapid gefallen.“
In seiner schönen Schrift über, Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums (1895) gibt Eduard Meyer in einer Beilage die Schilderung wieder, welche Dio Chrysostomus (geboren um 50 n. Chr.) in seiner siebenten Rede von den Verhältnissen einer von ihm nicht genannten Kleinstadt in Euböa entwarf. Die Entvölkerung des Reiches kommt darin drastisch zur Darstellung.
„Der ganze Landkreis ist städtisches Gebiet und der Stadt steuerpflichtig. Größtenteils, wenn nicht ausschließlich, ist das Land im Besitz reicher Leute, denen ausgedehnte Güterkomplexe gehören, die teils als Weide, teils als Ackerland bewirtschaftet werden. Aber es ist vollständig verödet. ‚Fast zwei Drittel unseres Gebiets‘, sagt ein Bürger in der Volksversammlung, ‚liegen öde da, weil wir uns nicht darum kümmern und zu wenig Bevölkerung haben. Ich selbst habe so viele Morgen, wie nur irgend einer, nicht nur in den Bergen, sondern auch in der Ebene, und wenn ich jemanden fände, der sie bebauen wollte, würde ich sie ihm nicht nur umsonst überlassen, sondern mit Vergnügen noch Geld dazu geben ...‘ Jetzt beginne die Verödung unmittelbar vor den Toren, ‚das Land ist vollständig öde und bietet einen traurigen Anblick, als läge es tief in der Wüste und nicht vor den Toren einer Stadt. Innerhalb der Mauern dagegen wird das städtische Terrain großenteils besät und beweidet ... Das Gymnasion hat man in Ackerland verwandelt, so daß Herakles und die anderen Götter- und Heroeustatuen im Sommer im Korn versteckt sind, und auf den Markt läßt der Redner, der vor mir gesprochen hat, jeden Morgen sein Vieh treiben und vor dem Amtshaus und den Amtslokalen weiden, so daß die Fremden, die zu uns kommen, die Stadt verlachen oder bedauern.‘“
„Dem entspricht es, daß in der Stadt selbst viele Häuser leerstehen, die Bevölkerung geht offenbar ständig zurück. An den Kapharischen Felsen wohnen einige Purpurfischer; sonst ist das ganze Gebiet auf weite Strecken unbewohnt. Ehemals gehörte dies ganze Land einem reichen Bürger, ‚der viele Herden von Pferden und Rindern, viele Weiden, viele und schöne Äcker und auch sonst großes Vermögen besaß.‘“
Er wurde um seines Reichtums willen auf Befehl des Kaisers getötet, seine Herden wurden weggetrieben, dabei auch das Vieh, welches seinem Hirten gehörte, und seitdem liegt das ganze Land unbenutzt da. Nur zwei Rinderhirten, freie Männer und Bürger der Stadt, sind zurückgeblieben und ernähren sich jetzt von Jagd und etwas Feld- und Gartenbau und Viehzucht ...
„Die