Michael wollte noch in derselben Nacht nach Hause zurückkehren, um seine Angehörigen, denen er einen kurzen telegrafischen Bericht hatte zukommen lassen, er habe in Geschäften verreisen müssen, nicht länger der Unruhe auszusetzen. Auf die Zeichen zur Abfahrt des Dampfers lauschend, die vom Wirtszimmer aus vernehmbar waren, saßen Michael und Rose auf einem schäbigen, mit Leder überzogenen Sofa, als hätte sich die Ewigkeit auf sie herniedergelassen. Sie sprachen nicht von Trennung oder Wiedersehen, nicht sowohl weil das in diesem Augenblick unerträglich gewesen wäre, als weil die Wonne, sich gefunden zu haben, noch so stark in ihnen nachzitterte, daß ein Schmerz nicht wirklich werden konnte. Als das langgezogene Pfeifen zum letzten Male aufgellte und Michael eilen mußte, fuhren sie zusammen, reichten sich aber in einem glücklichen Traume befangen lächelnd die Hand; Rose begleitete ihn nicht bis zur Landungsbrücke.
Es war des stürmischen Wetters und der vorgerückten Stunde wegen kein Reisender außer Michael auf dem Verdeck. Die Wetterschwärze hatte den ganzen Himmel bezogen, und der Wind raste über das Wasser; an der Bergseite blitzte noch von Zeit zu Zeit das ferne Wetterleuchten. Wie Michael an der Spitze des Schiffes stand und der Wind ihm die Haare von der Stirn wehte, glaubte er in das Getöse der Wellen hinein die rauschenden Stimmen aus seinem Kindergarten zu hören: O Leben, o Schönheit, o Leben, o Schönheit!, und ein magisches Band schien von jenen dumpfen Träumereien zu diesem Augenblick des Glückes zu führen. Wie er größer geworden war, hatte er sich zaghaft auf der kümmerlichen mechanischen Bühne herumgeschoben, die Menschen aufgestellt und für das Leben ausgegeben hatten. Dort deklamierte jeder sein ödes Tagewerk in langen Jammerversen, und schläfrige Furien, Langeweile und Mißmut und Entkräftung schlichen auf Socken hinter ihm her. Aber was tut es, dachte er, wenn der Sturm mir den Mantel zerreißt und mein Schiff an den Fels wirft, wo es scheitern kann! Welche Wonne ist es, zu kämpfen, welche Wonne, zu hoffen und zu wagen, welche Wonne noch, unterzugehen. Er bewegte die Lippen, und sein Herz schrie in die tosende Nacht hinaus: O Leben, o Schönheit! bis es ihm war, als ob das Heer der wilden Seelen von Sturm, Wolken und Wellen mit ungeheurem Frohlocken wiederholte: O Leben, o Schönheit! Noch als er den Dampfer verlassen hatte und zu Lande weiterfuhr, brandete der stolze Rhythmus an seinem inneren Ohre und ging allmählich in den regelmäßig schütternden Takt der Eisenbahn über, die ihn wieder nach Hause trug.
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Wenn man aus der Kirche, wo einem die Wirkung edler architektonischer Formen und der Musik fast ohne eigene Anspannung über das Irdische hinaus gegen den Himmel trug, auf die Straße tritt, entsinkt einem wohl der Mut, zwischen den spießbürgerlich geschäftigen Menschen, mit denen man beständig die nächsten Pflichten zu teilen hat, den köstlichen Aufschwung zu bewahren. Etwas Ähnliches erlebte Michael, als er sich vom Bahnhofe aus auf den Weg nach Hause machte, nur deshalb freilich unendlich schlimmer, als von ihm gefordert wurde, unmittelbar das Schwerste handelnd auszuführen, was ihm in der Aufwallung aller Gefühle leicht erschienen war. So bedachtlos war er freilich nicht gewesen, daß er nicht von Anfang an Kampf und Arbeit vorausgesehen hatte, wenn er sich die Bahn für ein neues Leben frei machen wollte; aber er hatte an heroische Kämpfe gedacht, die ihm nun lächerlich vorkamen angesichts des Schlachtfeldes, wo sie entbrennen sollten. Alles, was er unterwegs sah, die Schaufenster voll kostbarer Überflüssigkeiten, die Bäume, die, in regelmäßigen Abständen gepflanzt, sich an wohlabgewogener Entfaltung glichen, die behäbigen Häuser mit dem doppelten Eingange für Herrschaft und Dienerschaft, die blinkenden Schilder, die vor Bettelei warnten, alles schien sich zu einer bedrohlichen Feindesmacht gegen ihn zu verbünden. In den glatten, gepflegten Gesichtern der modisch zusammengeschneiderten Menschen las er freche Grausamkeit, die sich brüstete: Wir kennen den Gott über den Wassern nicht; wir dienen einem Baal, der die Abtrünnigen schlachtet. Ja, hätten sie das laut bekannt, wäre der Kampf leichter gewesen; aber Michael wußte, daß sie keine anderen Worte im Munde führten, als Gott, Familie, Pflicht, Gesetz, Ordnung, die wie geheiligte Schwerter die ungewappnete Rede des Gegners totschlugen.
Plötzlich fiel es ihm ein, daß er bisher nur mit sich selbst gesprochen hatte, daß also in ihm eine Stimme sein mußte, die ihn eines großen Frevels beschuldigte, und er versuchte in sich nachzuforschen, ob er denn so Unerhörtes begehre. Er wollte nichts, das wiederholte er sich ernstlich, als Freiheit des Berufes, Entbürdung von der kaufmännischen Tätigkeit, die Möglichkeit, seinen Geist auszubilden, und wunderte sich, daß ihm bange war, so billige Forderungen zu äußern. Es konnte nichts anders sein, als daß er selbst noch unter der Macht der heimatlichen Anschauungen stand, nach denen jedes Abweichen von der schnurgeraden Straße, auch wenn es aufwärts ging, etwas Schändliches bedeutete, und er sehnte sich, diese Verschnürung lösen und abstreifen zu können.
Verena begegnete ihm mit den Worten: »Du warst bei Rose!« und überhob ihn dadurch der peinlichen Einleitung zu den schweren Auseinandersetzungen, die kommen mußten. Es kam ihm nicht in den Sinn, die Wahrheit zu bestreiten, während Verena im Innersten eine Verneinung erwartet hatte, ja sogar ein Ableugnen, das sie durchschaut hätte, ihr im Augenblick willkommen gewesen wäre. »Ich sagte dir damals, daß du sie liebtest, und du belogst mich«, rief sie heftig, der Ungerechtigkeit dieser Anklage wohl bewußt, im brennenden Triebe, den zugefügten Schmerz sofort zurückzugeben. »Damals sagte ich die Wahrheit wie heute«, entgegnete Michael ruhig. »Ich kann auch nicht bereuen, was ich getan habe, denn ich mußte sie noch einmal sehen, wenn ich weiterleben wollte; es war nicht mein Wille, dir etwas Böses zuzufügen, und was ich dir wider meinen Willen tue, hoffe ich einmal wiedergutmachen zu können.«
Die Kälte, mit der er sprach und die ihren Grund darin hatte, daß er sich Zwang antat, um fest zu bleiben, wirkte um so schauerlicher auf Verena, weil sie an seine hebevolle Schonung gewöhnt war, selbst in den Augenblicken, wo er ihr grollte oder zürnte. Da war es vor ihr, das gräßliche Medusengesicht des Lebens; sie mußte es anstarren, obwohl ihr graute, und ein kaltes, steinernes Gefühl schlich an ihre Seele. In wilder Angst vor der Erstarrung, die sie überwältigen wollte, stürzte sich ihr haltloses Erschrecken, ihre Entrüstung und Verzweiflung in zusammenhanglosen Worten von ihren Lippen. Sie sagte ihm, daß sie ihn in diesem Augenblicke glühender haßte, als sie ihn je geliebt hätte; daß er sie hintergangen hätte wie ein feiger, meuchlerischer Verräter, und suchte nach den ärgsten Beschimpfungen, damit er nichts von der bitterlichen Sehnsucht ahnte, die ihr zum Trotz nach ihm schrie. Er hörte ohne Bewegung und ganz ohne Mitleid zu. »Leiden gibt es in jedem Leben«, sagte er, »und wenn wir sie überwunden haben, erkennen wir oft, daß sie größeren Wert haben als viele unserer Freuden. Aber auch davon abgesehen, muß jeder lernen, mit seinem Schicksal fertig zu werden; denn dazu sind wir da.« Er staunte über die Worte, die von seinen Lippen kamen, und war sich selbst kaum weniger fremdartig und furchtbar als ihr. Indessen seine nun folgende Erklärung, daß er beschlossen habe, den Beruf eines Kaufmannes aufzugeben und einen anderen zu ergreifen, beruhigte sie wieder etwas, besonders aber seine Bitte, Roses Namen in die Auseinandersetzungen mit der übrigen Familie, wozu es nun kommen mußte, nicht zu verwickeln. Nahm sie diese Zumutung auch anfangs mit Mißtrauen auf, so sagte sie sich doch bald, wenn die Sache sich überhaupt verschweigen ließe, wäre sie vielleicht nebensächlicher, als sie sich ihr zuerst dargestellt hätte, und schiene Michael selbst ihr keine Folgen beizumessen. Sie gab ihm nach kurzem Bedenken bereitwillig das Versprechen, zu schweigen, und wie mit der Hoffnung alle großmütigen Triebe wieder in ihr rege