In der Zeit, als Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz, mit dem Beinamen der Fromme, den Calvinismus in sein Land einführte und die Lutheraner vertrieb, schrieb einmal Landgraf Wilhelm von Hessen, ein sehr einsichtiger Mann, in bezug auf dies Vorgehen: Wenn er, Friedrich, das Recht hätte, seine Untertanen nach seiner Meinung umzuändern, so hätten ja der Erzbischof von Mainz und der Abt von Fulda dasselbe Recht, welches sie, die Protestanten, ihnen aber nicht hätten lassen wollen, ebensowenig Frankreich und Spanien, deren Untertanen der Kurfürst Beistand geleistet hätte. Deshalb könnten jene Fürsten ihm vorwerfen, er strafe an ihnen, was er selbst tue. Darauf antwortete Friedrich: es sei wohl ein ander Ding, einen zum Guten und Gotteswort und der Wahrheit, ein anderes, ihn zum Bösen, Abgötterei und Lüge treiben, die weil das eine von Gott geboten, das andere direkt verboten sei. »Ficht mir auch nicht an, daß die Papisten fürwenden möchten, sie hätten auch den Vorsatz, die rechte Religion zu befördern, denn ein jeder muß seines Grundes selbst gewiß sein, man wollte denn alle Religionen in ein Zweifel setzen und eine scepticam religionem machen, daß man nit wisse, welches schwarz oder weiß wäre.« Erstaunlich, wieviel Naivität und zugleich Klugheit und richtige Beobachtung sich in diesem Urteil des alten, damals seinem Ende nahen Kurfürsten verrät. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, wird der nicht alle und namentlich die, welche seiner Leitung und seinem Schutze anvertraut sind, an der Wahrheit teilnehmen lassen wollen? Ist es nicht eine Pflicht, sie vor den Irrtümern und falschen Lehren Andersgläubiger zu behüten? Der Kurfürst nahm offenbar an, es gebe nur zweierlei: entweder die Überzeugung, im Besitz der Wahrheit und des Heils zu sein, die notwendig jeden anderen Glauben ablehnen und verdammen muß, oder Lauheit, die nicht fern ist von Gleichgültigkeit in Glaubensfragen. Im allgemeinen hatte er wohl recht. Überzeugte Gläubigkeit, die zugleich den Glauben des anderen achtet und nach der altspanischen Parabel die Wahrheit Gott überläßt, ist sehr selten. Weit entfernt, Duldsamkeit in die mittelalterliche Weltanschauung einzuführen, erneuerte die Reformation noch einmal das alte Glaubensfeuer mit seiner ganzen Inbrunst und seiner ganzen Ausschließlichkeit.
Luther allerdings vergaß nicht, daß er, als er um das Recht, seinen Glauben zu bekennen, kämpfte, die Papstkirche bitter getadelt hatte, weil sie die Ketzer verbrenne, anstatt sie mit Gründen zu überwinden. Es gibt nämlich neben tiefer Einsicht und Gleichgültigkeit noch eine dritte Quelle der Duldsamkeit: die Lage des Unterdrückten, dem die Meinungsäußerung verboten ist; sein Schrei nach Toleranz pflegt zu verstummen, sowie er sich Bekenntnisrecht erworben hat. Er rückt dann in die Reihe der Überzeugten ein, die sich verpflichtet halten, die Wahrheit auszubreiten. Luther war überlegen genug, seinen Standpunkt aus der Kampfzeit nicht zu vergessen; noch im Jahre 1528 sagte er, er könne nicht zulassen, daß man die falschen Lehrer töte, es sei genug, daß man sie verbanne. Als er sich zögernd bewegen ließ, die Hinrichtung von Wiedertäufern zu befürworten, nahm er ihre Staatsgefährlichkeit zum Vorwand. Um behaupten zu können, daß bei den Evangelischen kein Glaubenszwang herrsche, während doch den Katholiken die Ausübung ihres Gottesdienstes verboten war, ließ er sich zu Beweisführungen herbei, die nicht ganz reinlich waren.
Die Fürsten, denen auf protestantischer Seite die Handhabung der Behandlung Andersgläubiger zugeteilt wurde, gingen dabei, wie es die Kirche und wie es Karl der Große getan hatten, von der Notwendigkeit der Einheit aus. Entsprechend dem starken Triebe nach Zentralisation, der die Fürsten seit dem 15. Jahrhundert beherrschte, glaubten sie verschiedene Bekenntnisse in ihrem Gebiet nicht dulden zu können. Gleichschaltung der Untertanen sollte ihre Beherrschung und Verwaltung erleichtern. Sie ließen sich dabei gerne von den Pfarrern beraten, die von ihrem Standpunkt des Glaubenseifers zu demselben Schlusse kamen wie die Fürsten von ihren staatsmännischen Interessen aus.
Die Verfolgungswut war besonders grimmig bei den Lutheranern, was sicherlich nicht mit der Persönlichkeit Luthers, vielleicht aber mit seiner Betonung der richtigen Lehre zusammenhing. Anhänger, die ihn persönlich gekannt hatten, wie der ungeschlachte Amsdorff, hielten jeden für einen im Grunde todeswürdigen Ketzer, der im geringsten von der lutherischen Lehre abwich. Durch sie geriet Melanchthon nach Luthers Tode in eine sehr peinliche Lage. Während seines ganzen Lebens litt Melanchthon darunter, daß er sehr klug, sehr scharfblickend, ein feiner, regsamer Geist, mehr kritisch als schöpferisch und dazu als Persönlichkeit zart und weich war, geeignet, beherrscht zu werden, und geneigt, sich beherrschen zu lassen. Er hatte Augenblicke, wo er Luther und die Herrschaft, die er über ihn ausübte, haßte. Sein überscharfes Auge sah unbarmherzig die Schäden, die die Reformation mit sich brachte: die Willkür der Meinungen, die Sittenverwilderung des Volkes, den Absolutismus der Fürsten. Die evangelischen Grundanschauungen gab er nicht auf; aber er kehrte sehr bald zu der Auffassung zurück, die seine humanistischen Lehrer, zum Teil unter dem Einfluß des Staupitz, auf ihn übertragen hatten, daß das Christentum sich hauptsächlich im Leben als friedliches, liebreiches Verhalten gegen den Nächsten zu betätigen habe. Er war weit davon entfernt, tolerant zu sein, gegen die Wiedertäufer war er viel härter als Luther; aber er wollte, daß innerhalb der Kirche nicht durch das Aufwerfen gesuchter oder gar absurder Streitfragen Gezänk erregt werde. Sein eigenstes Interesse gehörte mehr dem Humanismus als der Theologie; selbst als Luther nach Worms ging, in einem so entscheidenden Augenblick, hätte er ihn gern begleitet, um bei der Gelegenheit die rheinischen Bibliotheken nach klassischen Schriften zu durchstöbern. Homer blieb ihm nächst der Bibel das liebste und wertvollste Buch, und er sehnte sich nach Menschen, die diese Interessen teilten. Schon 1524 schrieb er seinem Freunde Camerarius, er lebe in Wittenberg wie in einer Wüste und habe nur mit beschränkten Geistern Umgang. Damit war nicht Luther gemeint: er selbst war zu bedeutend, um nicht Luthers Bedeutung immer zu erkennen; aber er empfand doch, daß Luther in einem Ideenkreise lebte, der nicht sein eigener war. Er fühlte sich als Fremdling da, wo er zu Hause sein sollte. Wenn er seinem Freunde schreibt: »Wenn ich so viel Tränen weinte als die angeschwollene Elbe Wasser vorbeiführt, so könnte ich doch meinen Schmerz nicht ausweinen«, so scheint ein Mensch zu sprechen, der beständig seine Tränen zurückgehalten hat im Bewußtsein, er werde nicht aufhören können zu weinen, wenn er einmal angefangen hätte. Nach Luthers Tode trat der Gegensatz zwischen Luther und ihm offener hervor, weniger durch ihn als durch seine Gegner ans Licht gestellt. Solange sein gewaltiger Freund die schützende Hand über ihm hielt, hatten sie sich nicht an ihn getraut, wie sehr sie auch über die Schlange grollten, die am Busen des Großmütigen nistete. Für viele von ihnen bestand das Christentum hauptsächlich im Aufrüsten und Zerlegen von Dogmen und gehässiger Verfolgung derjenigen, die die Wahrheit anders bearbeiteten. Ein berühmter Geistlicher zählte einmal 58 Schimpfwörter auf, mit denen seine Gegner ihn und die ihn beschützenden Fürsten belegt hatten. Da Melanchthon gute Werke als Zeugnis des Glaubens forderte, verketzerten ihn die Orthodoxen, als wolle er die Grundlage der Lutherschen Lehre umstürzen. Die Lehren, man müsse gute Werke tun, gehören dem Teufel, sagte Musculus. Andere hörten in dieser Lehre das Mordgeheul des römischen Wolfes oder spürten darin die Buhlereien mit der babylonischen Hure. Amsdorff verfaßte eine Schrift, daß gute Werke schädlich seien zur Seligkeit, was Kaiser Ferdinand zu der Bemerkung veranlaßte, nun sehe er, daß die Lutheraner voll Teufel seien, zuvor habe er es nicht glauben wollen. »Die Nachwelt wird staunen«, schrieb Melanchthon, »daß es ein so rasendes Jahrhundert gab, in dem die Behauptung, gute Werke seien nicht nötig, Beifall finden konnte; der Satz, man muß dem Gesetz Gottes gehorchen, ist so notwendig und wahr, wie der, zweimal zwei macht vier.« Im Zusammenhang damit lehnte er auch Luthers schroffe Formulierung der Lehre von der Unfreiheit des Willens ab. David, sagte er, sei nicht bekehrt worden, wie wenn ein Stein in eine Feige verwandelt wird – ein Vergleich, den Luther wohl auch nicht gebraucht haben würde –, sondern der Wille habe dabei mitgewirkt. In der viel umstrittenen Abendmahlsfrage neigte er zur Fassung der Schweizer, und dies war allerdings eine empfindliche Abweichung von Luther.
Als Wittenberg durch den Verrat des Herzogs Moritz an die albertinische