»Hast du nicht gehört, was ich gesagt hab? Ich hatte noch zwei Liter im Kanister vom Chemiker. Die hab ich weggekippt. Du musst schon durch den Abfluss schwimmen, wenn du sie haben willst, aber dann musst du dich beeilen.«
»War das Zeug nicht in Ordnung oder was?«
»Es war genauso sauber wie immer. Deswegen hab ich es weggekippt. Ich muss jetzt gehen. Komm nie wieder zu mir.«
Olavi Andersson wollte gehen, spürte aber sofort darauf eine Faust im Nacken.
»Glaub bloß nicht, dass du so leicht davonkommst, du Scheißkerl. Weißt du, was du mir schuldig bist?«
Er ging weiter, bekam jedoch einen weiteren Schlag, diesmal in den Rücken. Langsam drehte er sich um, machte einen Schritt nach vorn und sah seinem Gegner in die Augen.
»Okay. Dann klären wir das jetzt. Du kriegst einen Freistoß. Wenn ich dann noch aufrecht stehen kann, krieg ich einen Freistoß. Wenn du die Bedingungen ablehnst, wirst du dich für alle Zeit von mir fern halten.«
Der Mann starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
»Du bist ja total durchgeknallt! Geh zum Teufel.«
Er machte mehrere Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und endgültig verschwand. Olavi Andersson folgte ihm mit den Augen, um sicher zu sein, dass er nicht noch einen Schlag von hinten bekam. Schließlich setzte er sich in Richtung Stadt in Bewegung. Er erwog, den Bus zu nehmen, doch dann fiel ihm ein, dass er mit seinem Geld gerade mal eine Haltestelle weit fahren konnte.
Beim Sozialamt waren fünf Hilfsbedürftige vor ihm. Als er an die Reihe kam, wurde er in ein Zimmer im Erdgeschoss verwiesen, an eine Frau, die er auf vierzig schätzte.
»Wir hatten wohl noch nicht miteinander zu tun«, sagte sie. »Ich heiße Karin Nilsson und bin neu im Büro.«
»Olavi Andersson. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Sonst wären Sie wohl nicht gekommen. Geht es um Geld für Essen?«
»Mehr als das«, sagte Olavi Andersson. »Aber es stimmt, im Augenblick brauche ich auch Geld für Essen.«
Karin Nilsson setzte sich hinter den Schreibtisch und schob die Papiere beiseite, die darauf lagen.
»Mehr als das«, sagte sie. »Mehr Geld oder was meinen Sie damit?«
»Haben Sie ein wenig Zeit?«
»Ich habe zehn Minuten für jeden Klienten. Aber nach Ihnen habe ich Pause und ich bin hungrig. Sie müssen mir also etwas Wichtiges mitzuteilen haben, wenn Sie mich zum Bleiben bewegen wollen.«
»Ich bin Alkoholiker.«
»Das sehe ich.«
»Aber ich habe aufgehört zu trinken.«
»Wann?«
»Vor einer Woche.«
»Alle Alkoholiker, die so lange gelebt haben wie Sie, hören zweimal im Jahr auf zu trinken. Sonst überleben sie es nicht. Aber dann fangen sie wieder von vorn an.«
»Das hat bisher auch für mich gegolten. Ich hab genauso viele Male wieder angefangen, wie ich aufgehört habe. Aber diesmal ist es anders.«
»Das sagen alle, denen ich begegne. Eine Woche trocken sein ist nicht viel. Warum also, sollte ich Ihnen glauben?«
»Ich brauche Geld, damit ich mir die Haare schneiden lassen und neue Kleidung kaufen kann. Sonst geht es nicht.«
Karin Nilsson sah ihn an. Er wich ihrem Blick nicht aus. Mehr als zwei Minuten saßen sie schweigend da.
»Gut«, sagte sie schließlich. »Sie bekommen etwas fürs Essen, Haareschneiden und für neue Kleidung. Dann kommen Sie morgen Punkt zwölf wieder und zeigen mir, wie Sie aussehen.«
»Das werde ich tun.«
Er bekam mehr, als er erwartet hatte. Es würde für eine anständige Hose, zwei Hemden, eine Herbstjacke und ein Paar Schuhe reichen. Er überlegte, ob Karin Nilsson wirklich berechtigt war, ihm so viel zu geben.
Im ersten Frisiersalon weigerte man sich, ihn einzulassen und erst recht, ihm die Haare zu schneiden.
»Mein Geld ist genauso gut wie Ihres«, sagte Olavi Andersson ruhig und drängte sich hinein. »Ich setze mich jetzt auf den Stuhl da und bleibe sitzen, bis Sie fertig sind.«
Bei Hennes & Mauritz wollte man ihn daran hindern, die Hose anzuprobieren.
»Das macht nichts«, sagte Olavi Andersson. »Nehmen Sie Maß, dann kauf ich sie, ohne sie anzuprobieren. Aber wenn ich bezahlt habe, will ich mich in einer Kabine umziehen. Dann können Sie an der Kabine ein Schild mit der Aufschrift ›Hier kehrte Olavi Andersson aus der Hölle zurück‹ anbringen.«
Es war fast drei Uhr, als er mit allem fertig war. Er ging wieder zum Sozialamt.
»Ich heiße Olavi Andersson«, sagte er. »Bitten Sie Karin Nilsson herzukommen und mich anzuschauen. Sie wird wissen, um was es geht.«
Eine Minute später war Karin Nilsson da. Sie musterte ihn, sagte aber nichts.
»Morgen kann ich nicht kommen«, sagte er. »Ich hab was Dringendes zu erledigen.«
»Brauchen Sie in der nächsten Zeit Unterstützung von unserer Suchthilfestelle?«
»Danke, aber ich komme allein zurecht.«
»Viel Glück. Sie wissen, wo Sie mich finden«, sagte Karin Nilsson und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Wieder in seiner Wohnung angekommen, aß er etwas und trank viel Wasser dazu. Als er fertig war, wusch er sofort ab. Danach zog er einen Karton unterm Bett hervor. Er stellte ihn auf den Tisch und begann darin zu wühlen. Ein Silberlöffel, zwei kupferne Kerzenhalter, ein hübsch gehäkeltes Deckchen. Sachen, die seine Mutter einen Monat vor ihrem Tod für ihn zurückgelegt hatte.
Er hielt den Silberlöffel in der Hand, in den sein Name und sein Geburtsdatum eingraviert waren. Er legte den Löffel zurück und zog ein Bündel Kuverts hervor, das in dem Deckchen steckte. Er drehte es um und betrachtete das unterste Kuvert, zog den Brief jedoch nicht heraus. Das war nicht nötig, er hatte ihn schon viele Male gelesen.
Dann schlug er das Bündel wieder in das Deckchen ein und schob den Karton zurück unters Bett.
9
Es war Samstagmorgen, aber für das Ermittlungsteam gab es kein erholsames Wochenende. Da der Mörder mehr als eine Woche Vorsprung hatte und konkrete Hinweise fehlten, hatten sie viel Arbeit vor sich. Außerdem saßen ihnen ständig die Medien im Nacken. Oskar Kärnlund verbrachte die Hälfte seiner Arbeitszeit damit, die Fragen der Journalisten abzuwehren. Mangels Einzelheiten über den Mord hatten Zeitungen, Radio und Fernsehen Wiljam Åkessons Hintergrund ausführlich beleuchtet. Die Abendzeitungen brachten fantasievolle Spekulationen, die anonymen Quellen entsprangen. Einer der Artikel handelte davon, wie rigoros Wiljam Åkesson die sozialen Ausgaben der Gemeinde beschnitten hatte; es folgten Mutmaßungen, dass es sich um einen Racheakt von jemandem handelte, der in diesen Wahlzeiten die Minimierung der existenzerhaltenden Sozialbeiträge anprangern wollte. Ministerpräsident Göran Persson sprach von der steigenden Kriminalität im Land. Mehrere Artikel beschäftigten sich mit Elina Wiik und berichteten, auf welch ungewöhnliche Art sie ihren letzten Mordfall gelöst hatte.
Elina bemerkte, dass sich manchmal Leute auf der Straße nach ihr umdrehten. Das gefiel ihr nicht.
Um elf wollte sich das Team im Präsidium versammeln. Elina war schon um halb sieben auf; sie hatte beschlossen, jeden Morgen eine lange Trainingsrunde zu laufen. Dass sie Karate beherrschte, hatte ihr einmal das Leben gerettet, und sie wollte ihre Kondition auf keinen Fall verlieren. Auch betrachtete sie ihren schwarzen Gürtel als Herausforderung.
Vor der Besprechung wollte sie sich überdies auf einen schnellen Imbiss mit Susanne, ihrer besten Freundin, treffen. Äußerlich waren sie sehr gegensätzlich, wesensmäßig einander jedoch