Vergeblich warteten wir auf das Anbrechen des sechsten Tages – für mich ist dieser Tag noch nicht angebrochen – für den Schweden wird er nie anbrechen. Von dieser Zeit an waren wir in pechschwarze Dunkelheit gehüllt, so dass wir einen Gegenstand auf zwanzig Schritt Entfernung vom Schiff nicht hätten sehen können. Ewige Nacht umgab uns fortan, nicht einmal gelindert durch den phosphoreszierenden Glanz des Meeres, an den wir in den Tropen gewöhnt gewesen waren. Obwohl das Unwetter weiterhin mit unverminderter Gewalt wütete, beobachteten wir auch, dass das übliche Aufkommen von Gischt oder Schaum, die uns bisher begleitet hatten, nicht länger auszumachen war. Ringsumher war Entsetzen, undurchdringliche Düsterkeit und eine schwarze, verschmelzende Wüste aus Ebenholz. – Abergläubisches Grauen kroch nach und nach in das Gemüt des alten Schweden, und meine eigene Seele war in stilles Staunen gehüllt. Wir vernachlässigten jegliche Wartung des Schiffes, die wir für schlimmer als nutzlos hielten, machten uns so gut wie möglich am Stumpf des Besanmastes fest und schauten bitterlich in die Welt des Meeres hinaus. Wir hatten keinerlei Mittel, die Zeit zu berechnen, noch konnten wir unsere Lage irgendwie erraten. Doch waren wir uns sehr wohl bewusst, dass wir weiter südwärts vorgedrungen waren als je ein Seemann zuvor, und verspürten große Verwunderung darüber, nicht auf die üblichen Hindernisse aus Eis zu treffen. Unterdessen drohte jeder Augenblick, unser letzter zu sein, jede berghohe Welle beeilte sich, uns zu überwältigen. Die Dünung überragte alles, was ich für möglich erachtet hatte, und dass wir nicht augenblicklich begraben wurden, ist ein Wunder. Mein Gefährte sprach von der Leichtigkeit unserer Ladung und erinnerte mich an die ausgezeichneten Eigenschaften unseres Schiffes; aber ich konnte mir nicht helfen, die äußerste Hoffnungslosigkeit der Hoffnung selber zu verspüren, und bereitete mich düsteren Mutes auf jenen Tod vor, von dem ich dachte, dass ihn nichts länger als eine Stunde hinausschieben könne, da das Anschwellen der ungeheuren schwarzen Wogen mit jedem Knoten Weges, den das Schiff zurücklegte, entsetzlicher und grässlicher wurde. Mal rangen wir in einer Höhe jenseits der des Albatrosses nach Luft – mal wurde uns schwindlig von der Rasanz unserer Talfahrt in eine wässrige Hölle, wo die Luft stillstand und kein Ton den Schlummer des Kraken10 störte.
Wir befanden uns am tiefsten Punkt eines dieser Abgründe, als ein jäher Schrei meines Gefährten angsterfüllt über die Nacht hereinbrach. »Sieh da! Sieh!«, schrie er, kreischte er mir in die Ohren, »allmächtiger Gott! Sieh da! Sieh!« Als er sprach, gewahrte ich das gedämpfte, unheilvolle Leuchten eines roten Lichtscheins, der die Seitenwände der gewaltigen Kluft, in der wir lagen, hinabströmte und ein zuckendes Schimmern auf unser Deck warf. Ich wandte meine Augen nach oben; da bot sich mir ein Anblick, der mir das Blut in den Adern erstarren ließ. In entsetzlicher Höhe genau über uns und just auf der Kippe des jähen Gefälles schwebte ein riesenhaftes Schiff von vielleicht viertausend Tonnen. War es auch auf den Kamm einer Welle von mehr als hundertmal seiner eigenen Höhe emporgehoben, so übertraf seine offenbare Größe dennoch die eines jeden Schiffes der Ostindienlinie11, das es gibt. Sein gewaltiger Rumpf war von einem dumpfen Tiefschwarz, das durch keine der an Schiffen üblichen Schnitzereien aufgeheitert wurde. Eine einzige Reihe messingner Kanonen ragte aus den offenen Geschützluken hervor, und die polierten Oberflächen spiegelten das Feuer unzähliger Gefechtslaternen wider, welche in der Takelage hin und her schwangen. Was uns aber in erster Linie Schrecken und Staunen einflößte, war, dass das Schiff jener übernatürlichen See und jenem unbändigen Orkan mit vollen Segeln trotzte. Als wir es zum ersten Mal erspäht hatten, war allein sein Bug zu sehen, da es langsam aus dem düsteren, grauenvollen Schlund hinter sich emporstieg. Für die Dauer eines Augenblicks äußersten Entsetzens hielt es auf dem schwindeligen Grat inne, als sei es in die Betrachtung der eigenen Erhabenheit versunken, erbebte dann, wankte und – stürzte hinab.
Ich weiß nicht, welch plötzliche Selbstbeherrschung meinen Geist in diesem Moment überkam. Ich taumelte so weit nach achtern, wie ich konnte, und erwartete furchtlos den drohenden Untergang. Unser eigenes Gefährt ließ nun schließlich vom Kampf ab und versank mit der Nase im Meer. Die kolossale, niederfahrende Masse prallte folglich auf den Teil seines Gerippes, der sich schon unter Wasser befand, und das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass ich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Takelage des Fremden geschleudert wurde.
Als ich fiel, drehte das Schiff ab und ging über Stag; der darauf folgenden Verwirrung schrieb ich es zu, dass ich der Beachtung der Mannschaft entging. Ohne große Schwierigkeiten gelangte ich unbemerkt zu der Großluke, die halb offen stand, und fand bald eine Gelegenheit, mich im Laderaum zu verbergen. Warum ich das tat, kann ich kaum sagen. Ein unbestimmtes Gefühl der Scheu, das mich auf den ersten Anblick der Seeleute des Schiffes hin überkommen hatte, war vielleicht die Ursache für mein Verstecken. Ich war nicht gewillt, mich einem Menschenschlag anzuvertrauen, der dem flüchtigen Blick, den ich um mich geworfen hatte, so viele Anzeichen von rätselhafter Ungewöhnlichkeit, so viel Grund für Zweifel und Argwohn geboten hatte. Deshalb hielt ich es für angebracht, mir ein Versteck in dem Laderaum zu schaffen. Dies bewerkstelligte ich, indem ich einen kleinen Teil der Schotten derart verrückte, dass sich mir ein bequemer Zufluchtsort zwischen den gewaltigen Schiffsbalken bot.
Kaum hatte ich meine Arbeit vollendet, als mich Schritte im Laderaum nötigten, Gebrauch davon zu machen. Ein Mann passierte mein Versteck mit kraftlosem, unsicherem Gang. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, bekam aber Gelegenheit, seine allgemeine Erscheinung zu betrachten. Sie zeugte von hohem Alter und von Gebrechlichkeit. Seine Knie wankten unter der Last seiner Jahre, sein ganzes Gerippe bebte unter dieser Bürde. Mit leiser, gebrochener Stimme murmelte er einige Worte in einer Sprache vor sich hin, die ich nicht verstehen konnte, und durchstöberte in einer Ecke einen Stapel einzigartig anmutender Gerätschaften und morscher Seekarten. Sein Gebaren war eine wilde Mischung aus der Launenhaftigkeit der zweiten Kindheit und der Ehrfurcht erweckenden Würde eines Gottes. Schließlich ging er auf Deck, und ich sah ihn nicht wieder.
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Ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe, hat von meiner Seele Besitz ergriffen – eine Empfindung, die keine Analyse gestattet, für die die Lehren vergangener Zeiten unzulänglich sind, und zu der, so fürchte ich, selbst die zukünftige Welt mir keinen Schlüssel bieten wird. Für eine Geisteshaltung wie die meine ist letztere Überlegung ein Übel. Niemals werde ich – niemals, das weiß ich – zufriedengestellt sein, was die Beschaffenheit meiner Eindrücke betrifft. Doch ist es nicht verwunderlich, dass diese Eindrücke unbestimmt sind, da ihr Ursprung in so gänzlich neuartigen Quellen liegt. Ein neuer Sinn – ein neues Sein wird meiner Seele hinzugefügt
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Es ist lange her, seit ich das Deck dieses schrecklichen Schiffes erstmals betrat, und nun, glaube ich, werden die Strahlen meines Schicksals in einem Brennpunkt gesammelt. Unbegreifliche Männer! Eingehüllt in Grübeleien einer Art, die ich nicht erahnen kann, übergehen sie mich sang- und klanglos. Es ist meinerseits völlig töricht, mich zu verbergen, denn die Leute sehen nicht. Gerade eben erst ging ich genau vor den Augen des Maats an diesem vorüber – vor kurzem noch wagte ich mich in die Privatkajüte des Kapitäns hinein und entnahm daraus die Materialien, mit denen ich schreibe und geschrieben habe. Ich werde dieses Tagebuch von Zeit zu Zeit fortsetzen. Es ist wahr, dass ich keine Gelegenheit finden mag, es der Welt zu übermitteln,