Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen. Эдгар Аллан По. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Эдгар Аллан По
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618067
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Sargtuch glich. In jeder der fünf Ecken des Raumes stand aufrecht ein gigantischer Sarkophag aus schwarzem Granit; fünf Sarkophage, die aus den Königsgräbern im Tal der Könige44 stammten und deren ehrwürdige Deckel mit uralten Skulpturen verziert waren. Aber erst in den Wandbehängen des Gemachs zeigte sich, ach, die überschwänglichste Phantasterei von allen. Die aufstrebenden Wände von gigantischer, fast schon unproportionierter Höhe waren von der Decke bis zum Boden im weiten Faltenwurf mit schweren, undurchdringlich wirkenden Wandteppichen behangen – Stoffe aus einem Material, das gleichermaßen als Teppich auf dem Boden, als Überwurf für die Ottomanen und das Ebenholzbett, als Baldachin über diesem und in den prunkvollen Windungen der Vorhänge, die teilweise das Fenster überschatteten, wiederzufinden war. Dieses Material war ein schweres Goldgewebe. Es war über und über in unregelmäßigen Abständen mit arabesken Figuren bedeckt, die etwa einen Fuß im Durchmesser aufwiesen und in tiefschwarzen Mustern in den Goldstoff gewirkt waren. Doch diese Figuren enthüllten sich nur als wahre Arabesken, wenn man sie von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtete. Durch einen heute geläufigen Kunstgriff, der sich allerdings in sehr entfernte Epochen der Antike zurückverfolgen lässt, veränderte sich ihr Anblick je nach Standpunkt. Einem Betrachter, der den Raum betrat, mussten sie wie simple Monstrositäten erscheinen; doch wenn er weiter fortschritt, änderte sich ihre Erscheinung allmählich; und Schritt um Schritt, je nach dem Standpunkt des Besuchers, sah er sich umgeben von einer endlosen Folge gespenstischer Formen, wie sie dem Aberglauben der Normannen entspringen oder in den schuldbeladenen Träumen eines Mönchs aufsteigen mögen. Der gespenstisch-flüchtige Effekt wurde dabei noch wesentlich durch einen künstlich erzeugten Luftstrom hinter den Wandbehängen erhöht, was dem Ganzen eine schreckliche und beklemmende Lebendigkeit verlieh.

      In Hallen dieser Art – in einem Brautgemach wie diesem – verbrachte ich mit der Lady von Tremaine die unheiligen Stunden des ersten Monats unserer Ehe – verbrachte sie und war nur wenig beunruhigt. Dass meine Frau die stürmische Launenhaftigkeit meiner Stimmungen fürchtete, dass sie mich mied und nur wenig liebte – es konnte mir nicht entgehen; doch dies bereitete mir eher Freude als alles andere. Ich verabscheute sie mit einem Hass, der eher dämonisch als menschlich war. Meine Gedanken flohen (oh, mit welch tiefem Bedauern!) zurück zu Ligeia, der geliebten, der majestätischen, der schönen, der begrabenen. Ich schwelgte in Erinnerungen an ihre Reinheit, ihre Weisheit, ihre hehre, ja ätherische Natur, ihre leidenschaftliche und abgöttische Liebe. Nun erst entbrannte mein Geist in einem vollen und freien Feuer, das alle ihre Feuer übertraf. Im Taumel meiner Opiumträume (denn ich lag gewohnheitsmäßig in den Banden dieser Droge) rief ich immer wieder laut ihren Namen in das Schweigen der Nacht oder bei Tag durch die stillen Winkel der Bergschluchten, so, als ob ich durch das wilde Verlangen, die feierliche Leidenschaft, die verzehrende Glut meiner Sehnsucht nach der Dahingeschiedenen sie selbst wieder zurückführen könnte auf die irdischen Pfade, die sie – ach, konnte es für immer sein? – verlassen hatte.

      Gegen Anfang des zweiten Monats unserer Ehe wurde Lady Rowena von einer plötzlichen Krankheit befallen, von der sie sich nur langsam erholte. Das Fieber, das sie verzehrte, ließ ihre Nächte unruhig werden. Und in ihrem verwirrten Zustand des Halbschlummers sprach sie von Lauten, von Bewegungen in und um das Turmgemach, deren Ursprung, so glaubte ich, nur im Aufruhr ihrer Phantasie zu finden war oder vielleicht in den phantasmagorischen Einflüssen des Gemachs selbst. Schließlich erholte sie sich, wurde gar wieder gesund. Doch verging nur eine kurze Zeit, ehe ein zweiter, heftigerer Anfall sie auf das Krankenbett zurückwarf; und von dieser Attacke erholte sich ihr Körper, der schon immer schwach gewesen, nie wieder ganz. Ihre Krankheitssymptome waren von Stund an alarmierend, und noch alarmierender ihre stete Wiederkehr, und sie spotteten gleichermaßen allem Wissen und allen großen Bemühungen ihrer Ärzte. Zugleich mit der Steigerung ihres chronischen Leidens, das offenkundig schon zu tief in sie eingedrungen war, um durch irdische Heilmittel noch ausgemerzt werden zu können, konnte ich nicht umhin, eine ähnliche Steigerung an nervöser Reizbarkeit sowie an Schreckhaftigkeit bei den geringsten Anlässen zur Furcht zu beobachten. Sie sprach wiederum, und jetzt häufiger und beharrlicher, von den Lauten – den kaum hörbaren Lauten – und von den ungewöhnlichen Bewegungen in den Wandbehängen; Erscheinungen, auf die sie schon vorher hingewiesen hatte.

      Eines Nachts, der September zog schon herauf, lenkte sie mit mehr als gewöhnlichem Nachdruck meine Aufmerksamkeit auf dieses qualvolle Thema. Sie war gerade aus einem unruhigen Schlummer erwacht, und ich hatte halb besorgt, halb entsetzt das Mienenspiel ihrer eingefallenen Züge betrachtet. Ich saß zur Seite ihres Ebenholzbettes auf einer der indischen Ottomanen. Sie richtete sich halb auf und sprach in einem inbrünstigen leisen Flüstern von Lauten, die sie gerade jetzt hörte, die ich aber nicht vernahm – von Bewegungen, die sie gerade jetzt sah, die ich aber nicht zu sehen vermochte. Der Wind rauschte heftig-bewegt hinter den Wandbehängen, und ich wollte ihr zeigen (was, so will ich zugeben, mir nicht gänzlich glaubhaft erschien), dass jenes fast unhörbare Atmen und jenes sanfte Spiel der Gestalten auf der Wand nur die natürlichen Folgen des Luftstroms waren, der wie üblich zirkulierte. Doch eine tödliche Blässe, die ihr Antlitz überzog, bewies mir schon, dass meine Bemühungen, sie zu beruhigen, fruchtlos sein würden. Sie schien in Ohnmacht zu fallen, und keiner unserer Diener war in Rufweite. Ich erinnerte mich, wo sich eine Karaffe leichten Weins befand, der ihr von den Ärzten verordnet worden war, und hastete quer durch den Raum, die Karaffe zu holen. Aber als ich in den Lichtkreis der Weihrauchschale trat, erregten zwei Umstände beunruhigender Art meine Aufmerksamkeit. Ich fühlte, wie ein spürbares, aber nicht sichtbares Objekt leicht an mir vorbeistreifte; und ich sah, dass auf dem goldenen Teppich, genau in der Mitte des strahlenden Lichterkranzes der Weihrauchschale, ein Schatten lag – ein schwacher, unbestimmter Schatten von engelsgleicher Erscheinung –, so wie man sich den Schatten eines Schattens vorstellen würde. Doch ich war verstört und erregt von einer übermäßigen Dosis Opium und beachtete diese Dinge kaum und sprach auch nicht zu Rowena davon. Als ich den Wein gefunden hatte, durchquerte ich den Raum erneut und füllte einen Pokal, den ich der halb Bewusstlosen an die Lippen hielt. Doch sie war wieder halbwegs zu sich gekommen und ergriff selbst den Pokal, wahrend ich auf die nächste Ottomane sank und mit meinen Augen an ihr hing. Es war in diesem Moment, dass ich deutlich sanfter Schritte auf dem Teppich und bei der Bettstatt gewärtig wurde; und Sekunden später, als Rowena im Begriff war, den Wein an ihre Lippen zu führen, sah ich – oder träumte dies nur – drei oder vier große Tropfen einer glitzernden, rubinroten Flüssigkeit in den Pokal fallen, so, als entsprängen sie einer unsichtbaren Quelle inmitten der Leere des Raumes. Ich sah es wohl – doch nicht Rowena. Sie trank den Wein, ohne zu zögern, und ich wagte es nicht, sie mit einem Geschehnis vertraut zu machen, das letztlich – wie ich meinte – wohl die Vorspiegelung einer allzu lebhaften Einbildungskraft gewesen sein musste, die durch das Entsetzen Rowenas, durch das Opium und durch die ungewohnte Stunde krankhaft überhitzt war.

      Doch kann ich es vor mir selbst nicht verbergen, dass unmittelbar nach dem Ereignis mit den Rubintropfen im Zustand meiner Frau eine schnelle Wendung zum Schlimmeren eintrat, so dass ihre Dienerschaft sie in der dritten darauf folgenden Nacht für das Grab vorbereitete und ich in der vierten Nacht allein bei ihrem verhüllten Leichnam saß, allein in dem bizarren Gemach, das sie als meine Braut betreten hatte. Wilde Visionen, opiumgeboren, flirrten wie Schatten vor meinen Augen. Mit unstetem Blick starrte ich auf die Sarkophage in den Ecken des Gemachs, auf die wechselvollen Figuren der Wandbehänge und auf das Züngeln der bunten Flammen in der Weihrauchschale über mir. Dann fiel mein Blick, als ich mir die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Bewusstsein zurückrief, auf die Stelle unter dem Lichtkreis der Weihrauchschale, wo ich die vage Andeutung des Schattens gesehen hatte. Der Schatten jedoch war verschwunden; ich atmete befreit auf, und mein Blick schweifte hinüber zur bleichen und starren Gestalt auf dem Bett. Da stürmten tausend Erinnerungen an Ligeia auf mich ein – und dann überfiel mein Herz mit der ungestümen Gewalt einer Flut das ganze unaussprechliche Weh, mit dem ich sie als verhüllten Leichnam gesehen hatte. Die Nacht schwand dahin, und voll bitterer Gedanken an die eine, die einzige, die über alles Geliebte verweilte ich und starrte versunken auf die sterbliche Hülle Rowenas.

      Es mag um Mitternacht gewesen sein, vielleicht auch früher oder später, denn ich hatte den Sinn für die Zeit verloren, als ein sanftes, leises, doch deutlich vernehmbares Schluchzen mich aus meinen Träumen auffahren ließ. Ich fühlte, dass es von dem Ebenholzbett her kam –