Eisrieke. Erdmann Graeser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erdmann Graeser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711592489
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      Erdmann Graeser

      Eisrieke

      Roman

      Saga

      Eisrieke

      © 1970 Erdmann Graeser

      Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

      All rights reserved

      ISBN: 9788711592489

      1. Ebook-Auflage, 2016

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

      Erster Teil

      Über Nacht war der Wind umgeschlagen, kam nun vom Westen, brachte Tauluft. Die Schneeflächen der Schöneberger Wiesen nahmen im Laufe des trüben Tages eine blaugraue Färbung an. In den heftig schwankenden Zweigen der alten, ausgehöhlten Weiden, die jetzt, durch ihre Doppelreihen, unfahrbar gewordene Feldwege erkennen ließen, krächzten die Krähen, halbverhungert und verzweifelt nach der langen Winterszeit. Warteten nun gierig, daß dort, wo trotz der Warnungstafeln und des wachsamen Gendarmen von wagemutigen Fuhrleuten Müllabladeplätze angelegt worden waren, ja – warteten, daß dort nun wieder die verschneite Herrlichkeit aus den reichen Küchen des Kielganviertels zum Vorschein käme.

      So ließ sich also mit Nachhilfe von Krallen und scharfen Schnabelhieben der Sache auf den Grund kommen und noch ein köstliches Mahl erhoffen.

      Wenn der Tauwind nur anhielt! Die klugen Augen der alten, erfahrenen Vögel richteten sich besorgt auf den fahlen Westhimmel hinter dem gelben Riesenbau des Joachimsthalschen Gymnasiums in der Ferne. Entstand, um diese Stunden, dort ein roter Streifen, kamen neuer Frost, neuer Schnee, neue Hungerszeit ...

      Wie die Krähen blickten auch die Jungen aus der Potsdamer Vorstadt nach dem Westhimmel, aber immer in der Erwartung, daß er sich blutrot färben möge. Denn dann bestand die gute Hoffnung für sie, daß über Nacht wieder durch scharfen Frost die morsch und körnig gewordene Eisbahn am Anfang des Wiesengeländes spiegelglatt würde.

      Die hatte der „olle Busch“ auf dem im Herbst regelmäßig überschwemmten Gebiet in kluger Voraussicht angelegt. Hier entstand ja, ohne jedes Zutun, bei Frostwetter ganz von selbst eine gewaltige Eisfläche, während der Weißbierwirt Fiedler jedesmal neu gießen mußte, wenn durch Tauluft die dünne Eisschicht auf dem sandigen Bauplatz nahe der Winterfeldstraße jäh zerstört worden war.

      Diesmal aber schienen beide Konkurrenten mit dem Geschäft zufrieden zu sein. Kurz vor Weihnachten hatte der Frost eingesetzt und bis jetzt – Mitte März – angehalten. Die Kosten für die Grogbude auf Buschs Bahn waren längst eingebracht, auch für das mit roter Leinwand beschlagene Lattengerüst, auf dem jetzt die vier Mann starke Kapelle saß und mit vereisten Trompeten gegen den Wind ankämpfte.

      Ja, der „olle Busch“ – wie immer mit einer gelben, mottenzerfressenen Pelzmütze und an der roten Nasenspitze einen hellen Tropfen – konnte sich vergnügt die Hände reiben, als er nun nach dem schwarzen Gewimmel auf der Eisbahn blickte. Der Mann von der Kasse hatte sich eben einen neuen Billettblock holen müssen, denn die anderen hatten nicht ausgereicht, weil immer noch neue Schlittschuhläufer kamen.

      „Eisrieke ist auch wieder da“, hatte er gesagt, „warum die nicht mehr nach die Rousseau-Insel geht!“

      „Weil sie ihren Leutnant dort nie gefunden hat!“ Ein Läufer – jung, blond, groß – bastelte in der Nähe an seinem Halifax. Jetzt hob er den Kopf und fragte: „Eisrieke?“

      „Na ja doch, Eisrieke“, sagte der Pächter. „Stand doch neulich erst wieder in der Zeitung von sie! Ein Original – verrückt geworden – unglückliche Liebe. Denkt immer, der Piepmatz kommt noch wieder, doch der Piepmatz kommt nicht mehr.“

      Der Kassierer war im Galopp nach dem Eingang der Bahn zurückgelaufen. Natürlich! Einige Jungen, denen der Groschen Eintrittsgeld zu hoch war, weil sie ihn nicht hatten, waren inzwischen über die von einem Schneewall und ausgedienten Weihnachtsbäumen gebildete Umfassung geklettert und verschwanden eben in der Menge. Gedeckt von ihren Freunden, die durch das an die Mütze gesteckte Eintrittsbillet ihren berechtigten Aufenthalt auf der Bahn nachweisen konnten, obwohl es nur Karten waren, die sie sich vorher draußen von Fortgehenden erbettelt hatten. Hinten, am Ende der Bahn, beim Faulen Graben, waren sie dann über die Schneemauer gestiegen – mit ihrem Billet konnte sie jetzt niemand verjagen.

      „Eisrieke – hä!“ Der olle Busch spuckte vergnügt seitwärts und spähte wieder über die Bahn. Was er erwartet, war eingetreten – alles in Aufregung. Dort, wo man die Schlittschuhe anschnallte und Stuhlschlitten mieten konnte, staute sich die Menge.

      Und dort stand Eisrieke, mit frischem, rotem Gesicht, schlohweißem Haar. Trotz der Winterzeit einen Strohhut mit roten Rosen, an der einen Hand einen weißen, an der anderen Hand einen schwarzen Handschuh. Sie lächelte die Umstehenden an, beachtete die spottenden Zurufe „Eisrieke“ gar nicht. Doch – da war noch eine andere merkwürdige Person – ein älterer Mann, der sich mit dem Anschnallen seiner Schlittschuhe beschäftigte, sonderbaren Dingern aus Holz mit eisernen Laufschienen, die vorn, an der Spitze, zu Spiralen geformt waren. Er trug hohe Schaftstiefel, einen Schafspelz und auf dem Hinterkopf eine Bibermütze mit rundem, grünem Samtdeckel.

      Jetzt war er fertig, Eisrieke stieg in den Stuhlschlitten, bekam eine Decke. Gleich darauf durchbrach der Mann mit dem Schlitten die Kette der Neugierigen, jagte davon, gefolgt von der Menge, die wie ein Kometenschweif nun hinterhersauste.

      „Eisrieke, Eisrieke!“ gellten die Rufe.

      Die Kapelle hatte, mitten in einem flotten Militärmarsch, jäh abgebrochen und versuchte jetzt, so gut es bei dem Winde und mit den vereisten Instrumenten gehen wollte:

      „Du bist verrrückt, mein Kind ...“

      zu blasen. Der olle Busch hatte es so angeordnet – zur Erhöhung der allgemeinen Stimmung. Der hintere Teil der Bahn, plötzlich ganz leer geworden, weil vorher alle Schlittschuhläufer nach dem Eingang, zu Eisrieke gestürmt – war jetzt, nach einigen Kreuz- und Querfahrten des Schlittens, das Ziel des wilden Zuges.

      Und dort, unbekümmert um die Vorgänge auf der Bahn, holländerte jener schlanke, junge Läufer, froh, daß er für seine Kunstübungen genügend Bewegungsfreiheit bekommen hatte. Doch nun, stutzig geworden, schlug er die Hackenspitze des einen Schlittschuhs ins Eis und sah verwundert den Anstürmenden entgegen.

      Gerade wollte der Schlitten an ihm vorübersausen, da gellte, von Eisrieke ausgestoßen, ein markerschütternder Aufschrei:

      „Her-bert!“

      Ein Schrei, daß der pelzbemützte Mann plötzlich innehielt. Der ganze Zug ballte sich, viele rannten aufeinander auf, stolperten.

      Eisrieke fuchtelte wild mit den Armen, riß die Decke ab, sprang aus dem Schlitten, eilte rufend auf den einsamen Läufer zu: „Herbert, endlich, endlich!“

      Doch, ehe sie ihn noch erreicht, glitt sie aus, fiel hin. Und blieb wie tot liegen, trotzdem sich ihr Begleiter und der Eisläufer sofort um sie bemühten. Endlich gelang es ihnen, sie wieder in den Schlitten zu setzen, den sie nun zusammen dem Ausgang der Bahn zuschoben.

      Erschrocken war die Läuferschar zurückgewichen, ein weiter Kreis hatte sich gebildet, nun folgte die Menge in einiger Entfernung. Das Ganze glich einem Trauerzug, die Kapelle war verstummt.

      „Ist sie tot, was ist denn los?“ Niemand beantwortete die Frage des Pächters, der aus der Grogbude herbeieilte.

      „Sollen wir einen Doktor holen?“ boten sich ein paar hilfsbereite Jungen an. Doch der pelzbemützte Mann machte eine abwehrende Bewegung. Mit dem Taschenmesser, das er schon hervorgeholt, durchschnitt er, einen Augenblick stehenbleibend, eilig die Riemen und steckte die Schlittschuhe in