Der Massenmörder. Hans Hyan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Hyan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445907
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bleibt noch hier!“ sagte Paul Rammler.

      „Und Lene?“

      „Ach so ... hm ... ja ...“

      „Ich gehe mit ins Café!“ sagte Lene diskret und zog sich ihr Mäntelchen an.

      „Nein, wir gehn auch mit, Paul!“ meinte die süsse Blonde.

      Paul maulte, aber er ging.

      „Seid bloss leise auf der Treppe!“ sagte er, die Korridortür aufschliessend, „ich habe meine Miete noch nicht bezahlt!“

      Leb’ wohl, mein Herz.

      Als Herr Philipp Mertens gegen sechs Uhr abends nach Hause kam, eilte er wie gewöhnlich zu seiner Frau, die um diese Zeit in ihrem Zimmer zu arbeiten pflegte. Er lächelte heimlich über diese Beschäftigung mit Nationalökonomie und ähnlichen Dingen, die seiner Überzeugung nach die praktischen Menschen wenig, und Frauen garnichts anging. Aber er hatte seine Frau viel zu gern, und wenn sie ihm von ihrem Lieblingsthema sprach, war er liebenswürdig und heuchelte eine Aufmerksamkeit, die er nicht aufbrachte.

      Wie er den langen, matt erhellten Korridor entlang ging, kam ihm das Hausmädchen aus dem Schlafzimmer heraus entgegen.

      „Waren Sie bei der gnädigen Frau?“ fragte der Fabrikant.

      „Nein, gnädige Frau sagten, als ich vorhin den Tee servierte, „wir sollten sie heute auf keinen Fall mehr stören ... gnädige Frau hat wahrscheinlich wieder so viel zu arbeiten ...“

      „Ja, ja,“ sagte Philipp Mertens im Weiterschreiten. Und er sah sie im Geiste vor sich sitzen, den prächtigen, lebenstrotzenden Körper, in das lose, buntseidene Hauskleid gehüllt, das den Nacken frei liess, über dessen warme Haut das rotbraune Haar in schweren Knoten fiel.

      Herr Mertens seufzte. Dann klopfte er leicht an die Tür und drückte die Klinke nieder. Es war dunkel im Zimmer.

      „Hanni!“ sagte er, und ein vages Gefühl der Unsicherheit durchzog sein Herz.

      „Hanni ... bist du hier?“

      Sie schlief wohl ... aber er hörte keinen Atemzug.

      Da griff er in ausbrechender Angst nach dem Drehknopf der elektrischen Beleuchtung. Das Licht flammte auf.

      Mit in die Luft tastenden Händen, vorgebeugt und die Augen, den Mund vom Entsetzen weit aufgerissen, stand der Fabrikant vor der hingestreckten Gestalt seines Weibes. Sie lag auf dem hellfarbenen Perserteppich auf der Seite, das Gesicht in die rechte Armhöhle gedrückt, wie ein grosses Kind, das unter Schluchzen eingeschlafen ist.

      Philipp Mertens war in die Knie gesunken und zu ihr hingerutscht. Er war kaum bei Besinnung, als er, von krampfhaften Schmerzen geschüttelt, wimmernd den Kopf der Frau in seine Arme nahm und sein tränennasses Gesicht gegen ihre eisigkalte Wange drückte. Einen Augenblick dachte er daran, das Mädchen hereinzurufen, einen Arzt holen zu lassen, aber die Gewissheit, dass dieses starke und noble Frauenherz, an dem er so sehr gehangen, zu schlagen aufgehört hatte, liess ihn nicht von der Stelle. Ihm war, als dürfe er sie auch nicht für einen Augenblick verlassen, als habe ihm der erkaltete Mund, der unter seinen Küssen so fühllos blieb, doch noch etwas zu sagen ... etwas Wichtiges, das keinen Aufschub duldete....

      Und so liess er, dessen Arme den üppigen Busen der Toten in verzweifelter Liebe umschlangen, die vom Weinen geblendeten Augen im Zimmer umhergehen und blieb mit seinen Blicken an dem kleinen Schreibtisch aus Rosenholz hängen, auf dessen Platte er so, in seiner hockenden Stellung, nicht hinaufsehen konnte.

      Er flüsterte leise wie zu einer Erkrankten und liess den Körper sanft zurückgleiten auf den Teppich. Dann schlich er zu dem Schreibtisch hin und nahm den Brief, der ja dort liegen musste, mit zusammengebissenen Lippen. Aber der Mut, das Kuvert aufzureissen, fehlte ihm lange. Er tastete sich erst noch einmal zu seiner Toten hin und horchte wieder nach ihrem Herzen, das, reglos, seiner verzweifelten Sehnsucht keine Antwort gab.

      Und so neben ihr auf dem hellen Perserteppich sitzend, las er den Brief, den sie ihm hinterlassen hatte:

      Mein lieber Mann!

      Ich kann Dir den Schmerz nicht ersparen, ich muss weg. Wenn Du den Brief durchgelesen hast, wirst Du auch die Notwendigkeit einsehen. Du hast mich so oft ausgelacht mit meinem Studieren und Lernen, aber ich konnte Dir ja nicht sagen, dass es alles nur um meiner selbst willen geschah, um eine Erklärung zu finden für die Veränderung meines Wesens, meiner ganzen Person. Ach, ich war wie eine Maus, die man in eine Falle gesperrt hat und die voller Angst immer wieder vergebens nach einem Ausweg sucht ... Ja, immer vergebens.... Das einzige, was ich mit all meinem Lesen und Lernen schliesslich begriffen habe, ist, dass wir alle einem schrecklichen Zwang unterworfen sind, dass unser ganzes Leben von hässlichen und oft lächerlichen Zufällen abhängt ... Ich habe mich geschämt, wenn ich launisch und zänkisch war im Zusammensein mit Dir, und Du, Lieber, hattest immer nur Entschuldigungen für mich und bist stets voller Nachsicht gewesen ... Aber es entschuldigt mich vielleicht, dass ich vordem anders war, dass ich eine lustige, glückliche und auch eine demütige Frau war, bis das Unglück kam, das schreckliche Unglück, ... ach, mein armer, lieber Mann, sei doch nicht böse! Es soll ja kein Vorwurf sein! Konntest Du denn ahnen, als Du damals vor sechs Jahren so gesund und fröhlich auf die Jagd fuhrst, dass sie Dich noch am selben Abend für tot, von einer tückischen Kugel getroffen, wieder zu mir ins Haus bringen würden! ... Zuerst war ich nur in Sorge um Dein Leben und voller Mitgefühl mit den grossen Schmerzen, die Du littest.... Aber dann sagte mir der Arzt eines Tages, Du würdest wieder gehen und Dich bewegen können wie vorher, aber als Mann würdest Du ein Krüppel bleiben ...“

      Der Lesende fing an zu zittern, er schluckte ein paarmal, wie von innerem Weinen, dann erhob er sich schwerfällig und riegelte die Tür ab, als könne ein Unberufener hereinkommen und in dieses traurige, ängstlich behütete Geheimnis eindringen. Er ging an den Schreibtisch; es war, als sei die Seele der Frau, die er so sehr geliebt hatte, in diese beschriebenen Blätter geflohen und lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Leichnam ab, dessen schöner, in seiner gelblichen Blässe so ernster Kopf sich wie ein Bildwerk abhob von dem schwarzen Sammetkissen, auf das ihn der Mann gebettet hatte.

      Philipp Mertens bebten Lippe und Herz, als er weiterlas:

      „Dem Arzt nahm ich es zuerst sehr übel, als er mir sagte, dass es ein schweres Schicksal sei, das da auch mich erwartete ... Was konnte denn da schon sein? Gibt es nicht Tausende und aber Tausende von Frauen, die ehelos und ohne alle körperliche Liebe durchs Leben gehen müssen? Und ich hatte das Glück solange besessen. Ich besass auch für mein späteres Leben die Erinnerung daran. Und ich hatte ja auch Dich selbst! Du warst mir geblieben! Deine Liebe und Güte! Wie leicht hätte ich Witwe sein können! In meiner Dankbarkeit, dass Du mir erhalten warst, lachte ich über einen Verlust, dessen Bedeutung mir erst ganz allmählich klar wurde ... Ach, solange man reich ist, kann man den Armen mit seiner Not und seiner Gequältheit nie begreifen!

      Aber ich weiss noch: was mich zuerst unruhig machte, das waren Deine kühlen Küsse.... An Deiner Liebe konnte ich nicht zweifeln, jeden Tag hast Du mir ja durch tausend kleine Dinge bewiesen, wie wert ich Dir war. Trotzdem fing ich an, eifersüchtig zu werden, Dich zu beargwöhnen; ich konnte und konnte nicht begreifen, dass das Feuer Deiner Leidenschaft so ganz erloschen sein sollte, dass die Schauer des Entzückens, unter denen ich gebebt hatte, nun niemals mich beseligen sollten!

      Bis Du eines Tages, vielleicht von Deinen geschäftlichen Ideen und den Sorgen des Tages in Anspruch genommen, Dich aus meinen Armen losmachtest und mit einem halbverlegenen Lachen sagtest ... nein, ich will das schlimme Wort nicht wiederholen, Du hast es ja selber gewiss auch nicht vergessen.... Das war das einzige Mal in all der Zeit, wo ich Dir böse war, wo ich Dich förmlich gehasst habe und wo ich den Plan fasste, Dir untreu zu werden. Du erinnerst Dich wohl noch, dass damals die beiden jungen Akademiker, Heinz Marquardt und der Kandidat Emil Fröhlich, in unserm Hause verkehrten ... Sie warben beide um mich, und Fröhlich, der mir der liebere war, hätte vielleicht gesiegt, wenn er kühner gewesen wäre. Und er wär’ es am Ende geworden, hätte ich nicht eines Tages, gerade als er bei mir war, Dein trauriges Gesicht plötzlich zwischen den Portieren der Tür zum Wohnzimmer auftauchen