„Ja, was denn?“
„Ach, Herr Staatsanwalt, da ist in dem grossen Juweliergeschäft von Grilling & Sohn in der Friedrichstrasse eine Ladendiebin abgefasst worden ... hinter der wir übrigens schon eine ganze Zeit her sind ... Die Person behauptet, sie kennt Herrn Staatsanwalt und müsste Herrn Staatsanwalt sofort sprechen!“
Emil Adolf Pallaske sah aus, wie wenn er lächelte ... Er wusste nicht mehr, dass er am Telephon sprach, und zwang seine Züge, als stände er dem andern gegenüber.
„So ... wie heisst sie denn?“
„Den richtigen Namen wissen wir auch noch nicht. Sie nennt sich Luise Schulz.“
„Und wie sieht sie aus?“
„Pardon, Herr Staatsanwalt, ich kann nicht vorstehen?“
Herr Pallaske wollte lauter reden, es wurde ihm schwer.
„Wie sie aussieht?!“
„Gross, volle Figur, rothaarig und sehr elegant ... sie spricht holsteinischen Dialekt.“
„Dann ...“ der Staatsanwalt lächelte noch immer, er dachte nach .. „dann sagen Sie der Person, ich kenne sie nicht und muss daher bedauern.“
„Danke bestens, Herr Staatsanwalt.“
„Bitte. Schluss.“
„Ja,“ sagte der Staatsanwalt, sowie der Hörer hing, noch einmal ganz laut zu sich selber: „Schluss!“
Er ging zur Wand, suchte mit fahrigen Fingern nach dem Lichtknopf und drehte ihn einmal ... die leuchtenden Kugeln verglühten in der grünen Seide ... Doch ein zweites „Knicks“ liess sie noch einmal aufflammen.
Herr Pallaske wandte sich und sah lange auf das Bild ... Er sann nach ... Irgendeine Rettung? — Nein, für ihn nicht.
„Sauve qui peut!“ Er sprach die Worte, leise, „wie lieb sie doch war! ... ja, dahinten ist’s dunkel ... keiner sieht den andern ... Adieu, Luise!“
Und es ward abermals finster im Gemach.
Schritte gingen leise auf dem Teppich ... Die schwere Form eines Mannes in der Finsternis versinkend .... Geräusche von an Stoff tastenden Händen ...
Ein scharfer Knall!
Und stöhnendes Schlagen gegen Möbel ... rutschen ... fallen ... röcheln ...
Die Akrobatin.
Am letzten Sonnabend hatte er „geschmissen“ und seinem Chef, einem Eierhändler, gesagt, er sollte sich seine faulen Eier gefälligst alleine aussuchen. Dann hatte er Geld und Bücher genommen und war spät in der Nacht sternhagelvoll zu seiner Wirtin gekommen, die noch an ihrer Nähmaschine sass und sofort die Miete verlangte. Aber Friedrich Unkelbach hatte alles verwichst. So musste er am nächsten Montag auf die Sparkasse, wo er die mühselig gesparten siebzig Mark abhob. Zuerst fluchte er, dann aber, sowie er den Betrag in der Tasche hatte, wurde er sich auf einmal bewusst, wie herrlich das sei, Geld zu haben und nicht gleich wieder arbeiten zu müssen. Er frühstückte in einer bekannten Kneipe, gab ein paar Lagen aus für ebensolche Nichtstuer und kam schon wieder angetrunken am späten Nachmittag zu seiner Wirtin, die ihn tüchtig ausschalt.
„Schäm’n sollten Se sich was,“ sagte die brave Frau, die von früh bis spät arbeitete, um sich und ihre beiden vaterlosen Kinder zu ernähren, „da ham Se nu Wochen und Wochen zu jebraucht, um die paa Meta uff de Kasse zu bring! ... un nu jeh’n Se hin un schlagen allens in’n paa Dage uff’n Kopp!“
Friedrich Unkelbach lachte. Er zahlte für zwei Wochen im voraus seine Schlafstelle, dann legte er sich hin und schlief sofort ein.
„Morjen früh,“ hatte er gesagt, „morjen früh mach ick ’ne Landpartie!“
Und da er an diesem Tage gar nicht mehr aufstand und es sowieso gewohnt war, früh aus dem Bett zu müssen, zog er sich am nächsten Morgen, wie es kaum Tag geworden war, schon an und ging ohne Kaffee fort ... Natürlich zuerst in die Kneipe, wo er schon zum Frühstück ein paar Schnäpse trank. Dann ging es mit dampfender Zigarre hinaus in den frischen Herbstmorgen.
Wie griente er und verspottete innerlich die Fleissigen, die schon nach ihren Arbeitsstellen zu eilen anfingen. Ein paarmal rief er, sie sollten sich doch Zeit lassen, die Arbeit liefe ihnen ja nicht weg. Und er högte sich, wenn die Leute über seine faulen Witze ärgerlich wurden.
Mit der Potsdamer Vorortbahn fuhr er hinaus bis nach Grosslichterfelde. Dort kehrte er wieder ein und trank gehörig. Er hatte eine förmliche Sucht nach Alkohol, der, das empfand er unklar, eine vollkommene Änderung in seinem ganzen Wesen bewerkstelligte. Die Ehrfurcht, die ihm sonst jeder besser gekleidete und höhergestellte Mensch abnötigte, verschwand unter dem Einfluss dieser starken Getränke. Der junge Mensch, der sonst wirklich kein Bösewicht war, empfand nach ihrem Genuss, er sei genau soviel wie jeder andere, ja, es sei eigentlich unverschämt, wenn irgendwer mehr scheinen wollte! ... Und während er sonst schüchtern war in Gesellschaft von Frauen, war er sich jetzt, in der Betrunkenheit, seiner Mannhaftigkeit vollbewusst. Ein unschönes Feuer erglühte in ihm, und mit frechem, zudringlichem Blick mass er jede Frauensperson, die ihm begegnete.
Inzwischen wanderte er rüstig fürbass. Aus dem in der Frühe noch mit einer grauen Dunstschicht verkleideten Himmel war die Sonne hervorgetreten, die milde Herbstsonne, die in der weichen Bläue des Morgenhimmels stand und alles vergoldete ... Hie und da erhoben sich auch hier schon die weissen, hässlichen Mietskasernen, aber noch dominierte das Feld, wo eben umgepflügte und frisch gesäte Landstriche von schwarzbrauner Farbe mit dem Grün bepflanzter Erde wechselten ... Lauben standen da, noch umweht und übersponnen von den bunten Wimpeln und Papierguirlanden des Erntefestes, alles aber, alles lag in dem weichen Glanz dieses herrlichen Morgens, der wie ein Abschiedsblick des scheidenden Sommers über die Erde leuchtete.
Friedrich Unkelbach schob den verbeulten Filzhut aus der niedrigen Stirn und steckte seine breite Nase witternd in die köstliche Luft. Er war auf dem Lande gross geworden; der Reiz der Natur ging an ihm verloren.
Aber da! Da drüben! ... Das war was!
Ein Mädel ging da durch die Felder, den Rock aufgeschürzt, so dass man ein Stück ihrer festen Wade sehen konnte, mit kräftigem, hurtigen Schritt und in strammer Haltung.
Der Hausdiener musste seine kurzen Beine tüchtig gebrauchen, um ihr näher zu kommen. Einmal sah sie sich um, aber sie beachtete den ihr Folgenden offenbar gar nicht.
Friedrich Unkelbach glühte förmlich. Vom schnellen Laufen, aber auch von jenem anderen Feuer, das der Alkohol in ihm entzündet hatte.
Die Gegend wurde hier, hinter Zehlendorf, immer freier, und bald, bei dem Wege, den das Mädchen einschlug, musste es in die Busch- und Baumgruppe hineinkommen, die völlig abgeschlossen lag und wo um diese Zeit sicher noch kein Mensch hinkam. Friedrich Unkelbach kannte die Gegend genau.
Er folgte dem Mädchen, das sich noch einmal umgesehen hatte, jetzt in einer Entfernung von knapp zehn Schritt, und seine Phantasie, von allen Hemmungen der Schamhaftigkeit befreit, malte sich den strammen, vollbusigen Körper der rasch vor ihm Herschreitenden.
Friedrich Unkelbach war neunzehn Jahre alt, er hatte aber bisher nichts anderes wie käufliche Liebe genossen. Vielleicht war seine Schüchternheit sonst zu gross oder er gefiel den Mädchen nicht. In dem gesteigerten Selbstbewusstsein seiner augenblicklichen Stimmung empfand er das als eine Beleidigung, für die er sich rächen müsse. Er war Mann und hatte so gut wie jeder andere das Recht, ein Mädchen sein zu nennen, das keine Dirne war!
Und, die da eben den Saum des Laubwäldchens erreichte, das war bestimmt keine! ... Die musste er haben! Bis zu diesem Augenblick hatte seine Begierde sich noch niederhalten lassen von dem Verantwortlichkeitsgefühl. Jetzt aber schnellte sie empor und bezwang die moralischen Regungen.
Im Nu war der Bursche hinter seinem Opfer, hatte es gepackt und rücklings ins Gras gerissen. Aber über sie herzustürzen, ihr gar Gewalt