Einige basale Differenzierungsleistung religionskultureller Intelligenz scheinen mir in der aktuellen Situation in Europa noch wichtiger zu sein als vordem. Die erste, oft nur noch im Konfliktfall theologisch wahrgenommene Leistung ist die kategorial feste, material jedoch je nach diachronem und synchronem Kontext sehr variable Konstellation einer Gemeinschaft des Wissens und den individuellen Subjekten dieses Wissens. Innerhalb des Christentums wird das konkret in der Korrelation der Kirche als lehr- und rechtsförmige Institution und der ihr zugehörigen Einzelnen, deren persönliche Glaubensgewissheit, obzwar institutionell vermittelt und gepflegt, unvertretbar ist. Doch wurde dies lange Zeit nicht kritisch, erst das neuzeitliche Christentum hat die Differenz von Gemeinschaft (und sei es eine »Mutter«) und Individuum als irreduzible Konstellation bewusst gemacht. Welche schwierigen Probleme daraus erwuchsen – hermeneutische, soziale, mentale – und nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Konfessionen nicht einvernehmlich gelöst sind, liegt am Tage. Es scheint wichtig, daran zu arbeiten v. a. im Interesse der Begründung von allgemeiner Religionsfreiheit und religiöser Toleranz gerade der Gläubigen. Nötig ist das gewiss auch im Interesse der Spezifik des westlich-europäischen Christentums. Ich habe erlebt, wenn die biographische Bemerkung erlaubt ist, dass chinesische Christen der zweiten oder afrikanische Lutheraner der vierten Generation unseren dogmatischen und erst recht unseren ethischen Umgang mit dieser Konstellation für einen fatalen Irrweg halten, für schieren »Subjektivismus« oder gar für ein Phänomen der europäischen »Dekadenz«.
Unsicher geworden ist auch die damit zusammenhängende basale Differenzierungsleistung in der Konstellation von Kanon und Interpretation. In der protestantischen Theologie wird diese Konstellation und damit die Ambivalenz des Schriftprinzips m.E. noch immer notorisch unterschätzt. Oft wird schon die Unterscheidung von Schrift und Tradition als abstrakte Opposition verharmlost, weil der biblische Kanon nur in seiner Genese als Arbeit an der Tradition wahrgenommen wird, nicht aber als dann tradierter und hermeneutisch durchaus unterschiedlich und mit materiell unterschiedlichen Folgen in Gebrauch genommener Kanon. Lange Zeit wurde überdies das als Kanon fixierte Schriftencorpus seiner Interpretation bloß abstrakt vorausgesetzt, so dass materielle Kanonizität, d. h. die religiöse Autorität der Bibel, erst auf Seiten der Interpretation thematisch, angesichts der zunehmenden Pluralität von Auslegungen langfristig jedoch aporetisch wurde. Es hat bekanntlich einigen Mut gekostet, die z. B. konfessionell sanktionierte Bibelexegese nicht schon für die religiös reale Autorität auszugeben, sondern zu akzeptieren, dass gerade unter der Maßgabe des reformatorischen Schriftprinzips die Kanonizität der Bibel, ihrer einzelnen Schriften und Topiken, fortwährend Veränderungen unterliegt, die nicht stillgestellt werden können. Jede Interpretation der Bibel tangiert diese Autorität spätestens als applicare unvermeidlich; historisch-kritische Exegese dekanonisiert sie schon als explicare, ja schon als intelligere. Ich bin überzeugt, dass die christliche, d. h. in der Erwartung geistlichen Gewinns arbeitende Bibelhermeneutik einen doppelten Prozess durchläuft: den einer differenzierend-distanzierenden Dekanonisierung und einer synthetisierend-identifizierenden Rekanonisierung. Für diesen konstruktiven Prozess gibt es viele, je nach religionskultureller Lage auch ganz unterschiedliche Gründe, Anlässe und Ergebnisse – dass diese Ergebnisse gleichwohl sich im Fließgleichgewicht von Familienähnlichkeit bewegen, behält sich der Heilige Geist vor.
Diese differenzielle Konstellation von Kanon und Interpretation wird nicht etwa unterlaufen, sondern eher bestärkt dadurch, dass die neuere Kulturhermeneutik darauf hinweist, dass religiöse Vollzüge auch »diesseits der Hermeneutik« aufscheinen und dass performative Präsenz nicht auf hermeneutisch vermittelte Repräsentation reduziert werden kann.6 Die stabile Unterscheidung zwischen dem urkundlichen Schrifttext als »vester Buchstab« und »bestehendes« einerseits, den unterschiedlich ihn auslegenden Hermeneutiken und, mit Hölderlin gesprochen, dem »Gesang«7, d. h. den Medien der gut übertragenden Deutung andererseits: Das ist die Bedingung nicht nur dafür, dass Philologie nicht durch Hermeneutik unterlaufen wird, sondern auch dafür, dass dichterische, bildliche, musikalische Deutungen nicht reduziert werden (müssen) auf die Philologie des Bibeltextes. Das religiös erhebliche ästhetische Wissen und Können, das in liturgischen Inszenierungen, in kultischen Räumen und Ausstattungen, in der bildenden und darstellenden Kunst, in literarischen Texten, ja in guten Predigthandlungen inkorporiert ist, kommuniziert mehr und anderes Wissen als das theologische, propositional und transzendental explizite, aufs Ganze gesehen aber eher schmale Wissen und Können. Es schadet nicht, sich daran zu erinnern, dass die moderne Hermeneutik sich in engem Konnex mit der Ästhetik bildete und dass der Versuch, die hermeneutische Philosophie zu etablieren, hierauf und ebenso auf Ansätze theologischer und juristischer Hermeneutik rekurrierte.8
In der Tat ist die variable, aber strukturell verlässliche Konstellation mehrerer Medien der religiösen Kommunikation, von Medien, die sich bis in ihre Ästhetik und Pragmatik hinein tiefgreifend unterscheiden, eine weitere basale Differenzierungsleistungen religionskultureller Intelligenz: Zu lesende und zu hörende Texte, optische und akustische Zeichen, visuelle Symbole und Bilder, Schweigen, Imagination, Sprache, Gesang, Gesten und Bewegungen in der Raumzeit des Ritus. Der religionskulturell wichtigste Sachverhalt ist dabei nicht Zahl oder gar Vollständigkeit dieser Medien, auch nicht die Perfektion einer Agende oder des Scripts für ihren effektiven Einsatz, sondern die Durchlässigkeit der erwartbaren Elemente und Schritte für kontingente Ereignisse, auch von solchen, die von der Regie nicht vorgesehen oder erwünscht sind. In meinem Fach ist von der praktisch-theologischen und erst recht von der medientheoretischen Befassung mit der synästhetischen Dynamik der religiösen Medien m. E. noch nicht genug angekommen.9 Das ist ein Mangel nicht zuletzt auch angesichts der massenmedial tauglichen Eventisierung kirchlicher Aktionen oder, am anderen Ende des Spektrums, angesichts des »Schweige und höre« von Pilgergruppen. Wer an Entscheidungen über die konkrete Zuordnung der funktionalen und sakralen Bestimmung gottesdienstlicher Gebäude und ihrer Einrichtung (einschließlich der Orgel) beteiligt war, spürt die tiefsitzende Unsicherheit im hier auftretenden, übrigens auch religionspsychologisch und -soziologisch diffizilen Differenzierungserfordernis.
Ich möchte hier noch eine Differenzierungsleistung religionskultureller Intelligenz berühren, deren Sinn wenn nicht überhaupt, so doch in ihrer traditionellen europäischen Gestalt vielen obsolet erscheint. Sie ist allerdings nicht genuin christlicher Herkunft, stellte aber auch im Wirkungsbereich des europäischen Christentums eine philosophisch und elementare und konsensuell stabile Operation dar – und sie scheint auch jetzt noch in der christlich-religiösen Sprache, in der Rede von Personen von sich, von der Welt und von Gott, fraglos präsent zu sein. Doch kann man nicht behaupten, dass die fromme Semantik sich verlässlich an die kategoriale Unterscheidung dieser drei Dimensionen religiösen Lebens hält. Zwar galt eine solche lange Zeit nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch, zumal metaphysisch, im christlichen Europa schlechterdings fraglos für die gesamte kulturelle Praxis. Sie unterschied den Bezug auf Objekte des Wissens (»Welt«), den Bezug auf die ihrer selbst bewussten Subjekte von Wissen (»Person«, »Geist«) und den Bezug auf etwas, das beide Dimensionen transzendiert, der menschlichen Vernunft daher nicht verfügbar ist und Wissensmonopole in den anderen Bezügen ausschließt (»Mysterien«, »Gott«). Auch die transzendentalistische Revision dieser Differenzierung