Konsens im Sinne der Konsensökumene muss am Ende nicht heißen, dass alle genau dasselbe sagen. Das hat es, wie schon der Kanon des Neuen Testamentes zeigt und worauf Ernst Käsemann zu Recht hingewiesen hat, in der Christenheit nie gegeben.56 Der Konsens kann und muss vielmehr darin bestehen, dass die beteiligten Kirchen mit Gründen sagen, warum sie einander anerkennen und Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft miteinander haben, auch wenn sie nicht in allen Punkten übereinstimmen. Die Differenzen dürfen nicht als derart empfunden werden, dass sie den Konsens in Frage stellen. Sie dürfen nicht kirchentrennend sein. Harding Meyer hat für einen solchen »differenzierten Konsens«57 die glückliche Formulierung geprägt »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«58. Oft wird diese Formulierung ohne das erste Substantiv unvollständig wiedergegeben und dadurch lediglich für ein ökumenisches Nebeneinander in Anspruch genommen. Es geht jedoch um mehr: echtes Miteinander, »sichtbare Gemeinschaft bzw. Einheit«59. Auch die Leuenberger Konkordie, der von römisch-katholischer Seite oft unterstellt wird, eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu sein, die den Status quo zementiere und deshalb als Zielvorstellung nicht tauge, ist auf Vertiefung der Kirchengemeinschaft hin angelegt. Sie hat wie die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre »antizipatorische Struktur«60. Sie sind Ansporn »dafür, die Überzeugung von der gebotenen und zugesagten Einheit der Kirche und von der bereits jetzt unwiderruflichen gegenseitigen Verbundenheit in konkreten Schritten wirksam werden« und »das Sicherheitsdenken, das Schritte nur aufgrund von schon erreichten und allseits geprüften Gemeinsamkeiten für möglich hält«61, hinter sich zu lassen.
Es ist zu hoffen, dass es der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre und der Charta oecumenica nicht so ergeht wie der Unionsbulle Laetentur caeli, die am 6. Juli 1439 in Florenz während des dort abgehaltenen Konzils von den Repräsentanten der römischen und der neurömischen Kirche unterzeichnet wurde. In der Mannheimer Ausstellung Die Päpste und die Einheit der lateinischen Welt war das in lateinischer und griechischer Sprache abgefasste Original dieser Bulle mit allen Unterschriften zu sehen, das heute noch in Florenz aufbewahrt wird.62 Diese Bulle blieb wirkungslos, weil die weltgeschichtlichen Ereignisse darüber hinweggegangen sind. Nach 1453 hatte man sowohl in Konstantinopel als auch in Rom andere Sorgen. Wirkungslos blieb diese Bulle aber auch, weil die Einheit an der Basis nicht vorbereitet war. Für die in der Unionsbulle am Beispiel des zwischen der lateinischen und der orthodoxen Kirche umstrittenen »Filioque« entwickelte Verständigungsmöglichkeit, dass man nämlich ein und dieselbe Einsicht in unterschiedlichen, auf den ersten Blick sogar widersprüchlich erscheinenden Formulierungen sagen könne, war die Zeit noch nicht reif.63 Die Studie des Ökumenischen Arbeitskreises zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die die Basis für die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre bildet, basiert auf dieser hermeneutischen Voraussetzung.64 Diese wird aber auch heute keineswegs von allen geteilt, wie die Widerstände gegen diese Erklärung zeigen. In einem Punkt jedoch scheint die heutige Situation gegenüber der des 15. Jahrhunderts verändert zu sein. Ökumene ist nicht mehr nur das Herzensanliegen einiger weniger in kirchenleitenden Ämtern und theologischen Fakultäten, sondern vieler Gemeindeglieder, die nicht verstehen können, warum es mit der Ökumene so zögerlich vorangeht, und die immer weniger bereit sind, sich mit den Bedenken zu belasten, die gegen ein intensiveres Miteinander der Kirchen vorgebracht werden. Wenn die Bedenkenträger in der breiten Zustimmung zur Ökumene ein Zeichen des Wirkens des Heiligen Geistes zu erkennen vermögen, dürfen auch sie sich entlastet fühlen. Ich hoffe gezeigt zu haben, warum ich im Titel die Abweichung von der alphabetischen Reihenfolge für gerechtfertigt halte, auch wenn mein Computer die Datei unter »Gegeneinander« gespeichert hat.
»Verstehst du, was du liest?«
Die Bildungsverantwortung des Christentums in der europäischen Wissenskultur
Walter Sparn
1. Wissen, Verstehen, Bildung
Das heutige Motto, »Das Christentum in der europäischen Wissenskultur«, spannt unseren Fragehorizont ebenso weit auf wie die bisherigen Titel, ist doch nicht nur von der modernen Wissenschaftskultur, sondern von der europäischen Wissenskultur die Rede. Der Ausdruck »Wissenskultur« variiert vermutlich den soziologischen Neologismus »Wissensgesellschaft« und wird meist zur Charakterisierung der wissenschaftlich-technischen Dynamik ›westlicher‹ Gesellschaften gebraucht: Im postindustriellen Zeitalter sei neben Arbeit und Kapital das informationstechnologisch verfügbare Wissen als die dritte Ressource gesellschaftlicher Wertschöpfung getreten. »Wissen« meint in diesem Zusammenhang wohl vor allem das Ergebnis der Rezeption und Kombination von Informationen, die einen über analoge und digitale Medien erreichen. Man kann fragen, wie viele Leistungen des Verstehens hierbei erforderlich und welcher Art sie sind. Sind solche Leistungen eher unwichtig oder betreffen sie nur den Gebrauchswert, gar nur den Geldwert der akquirierten Information? Die einer Wissensgesellschaft zuarbeitenden Universitätsreformen der letzten Zeit geben jedenfalls manchen Anlass zur Frage: »Wissensgesellschaft! – Aber ohne Bildung?«1
Eine solche Frage wird nun durch die semantische Umstellung von »Wissensgesellschaft« auf »Wissenskultur« nicht schon hinfällig. Es könnte ja sein, dass die Zuordnung von »Wissen« zu »Kultur« ein Problem menschlichen Wissens in den Hintergrund schiebt, das schon alt ist, nämlich die Verbindung von Wissen und Macht. Die Ambivalenz dieser Verbindung hat sich in Wissensgesellschaften aber dramatisch verschärft. Die intendiert totale Verfügbarkeit und (scheinbare) Kostenfreiheit zumal von digitalisiertem Wissen verschleiert, dass es eine geldwerte und damit potenziert machtaffine Ware geworden ist. So fragt sich auch unter diesem Aspekt, was »Wissen« bedeutet. Ist das Wissen von Wissensgesellschaften noch – ich greife weit – der Tugend der Weisheit benachbart, wie ein langwährender europäischer Konsens besagte? Oder wird es in Wissensgesellschaften auf die Nutzungsmaximierung der Koalition von Macht und Geld zugerichtet? Als Kapital kennt Geld, und das ist schon länger bekannt (schon Martin Luther wies darauf hin), keinen abnehmenden Grenzwertnutzen; den Sinn, der seine Materialität als Tauschmedium transzendiert, hat es im schieren Immer-noch-mehr.