Hannelore griff nach ihrer Tasche, als wollte sie bezahlen. Und dann glaubte sie, daß ihr so viel Glück nicht allein zustünde, daß sie es mit einem anderen teilen müsse. Ein seltsamer Gedanke fraß sich fest: »Sagen Sie«, überrannte sie ihren Widerstand. »Was würden Sie trinken, wenn Sie eine außergewöhnlich gute Nachricht …«
»Sekt, Madame«, entgegnete der Ober lachend. »Ich will wirklich nicht auf Umsatz machen«, versicherte er, »aber wenn ich mir Ihr Gesicht so ansehe, vielleicht sogar Champagner.«
»Champagner«, entschied Hannelore. »Und zwei Gläser, bitte.«
Sie, deren Arroganz und Unnahbarkeit in Hartmannsberg im Chiemgau sprichwörtlich waren, weil sie fast nie ein privates Gespräch mit den Einheimischen führte, stieß mit einem Unbeteiligten an und verstand auf einmal, warum Horst so gerne trank. Sie kam sich leicht vor, schwerelos, und hatte auf einmal Schwierigkeiten mit dem Denken.
»Vielleicht bin ich in Wirklichkeit Hans Huckebein, der Unglücksrabe«, sagte sie lachend, als sie bezahlte, »aber ich muß es Ihnen sagen, auch wenn Sie mich für eine törichte, alte Gans halten …«
Aber, gnä’ Frau …«
»Ich werde wieder heiraten«, sagte Hannelore und ließ das letzte Glas stehen, hielt sich einen Moment lang an der Bar fest, merkte, daß sie aufrecht gehen konnte, und sagte sich, daß sie jetzt gehen müsse, bevor sie den Keeper als Trauzeugen zu ihrer Hochzeit einladen würde.
Der alte Mann hatte seit vielen Jahren einsam und zurückgezogen gelebt, aber er war in Wirtschaftskreisen viel zu bekannt, um unbemerkt sterben zu können. Zwar fehlte in den Inseraten-Plantagen der New Yorker Zeitungen seine Todesanzeige, aber die Blätter berichteten dafür ausführlich im redaktionellen Teil über das Lebenswerk des »Eremiten von Wallstreet«, und so mußten sich die Großen des Geschäftslebens bei launischem Aprilwetter auf Brooklyns Armenfriedhof bemühen, um Aaron S. Greenstone die letzte Ehre zu erweisen. Obwohl der Verstorbene weder Angehörige noch Freunde hinterlassen hatte, gerieten die Trauergäste an seinem offenen Grabe in dichtes Gedränge.
Für Henry W. Feller war es ein Pflichtbesuch, den er mit Anstand hinter sich bringen wollte. Er wußte noch nicht, daß ihn der stille Tod dieses Klienten über Monate hinweg beschäftigen und durch die halbe Welt hetzen würde.
Er hielt sich im Hintergrund, stand neben dem Senior der bekannten Anwaltsfirma Brown, Spencer & Roskoe, einen Kopf größer, der designierte Nachfolger, 39, neben dem 70jährigen Firmenchef. Er betrachtete die illustre Versammlung gewichtiger Herren in dunklen Anzügen. Ihre Gesichter wirkten feierlich, auch wenn die Zeremonie für viele von ihnen nur lästig war. Die Manager der City ließen sich ungern daran erinnern, daß etwas mächtiger war als ihre Aktivitäten an der Börse. Aber womöglich brauchte man gar kein Geschäftsmann zu sein, um Beerdigungen zu meiden – die meisten Menschen würden sicherlich ihrer eigenen fernbleiben, wenn sie es könnten.
Feller, breitschultrig, schlank und sportlich, war auf den ersten Blick ein Mann, dessen Vitalität durch Intelligenz beherrscht wurde; er hatte eine hohe Stirn, klare Augen und vereinigte, nach einem Wort seines Gönners, Brillanz mit Bizeps. Der Anwalt hatte den Verstorbenen kaum gekannt, und so war er weniger aus Pietät als auf persönlichen Wunsch Roskoes nach Brooklyn gefahren. Der Senior, durchaus nicht zimperlich, brauchte bei der düsteren Zeremonie keinen Begleiter, sicherlich verband er mit seiner Einladung einen Zweck. Wünsche, die aus der Reihe fielen, hatten bei seinem Firmenchef meist einen besonderen Grund.
Sie saßen in Roskoes Mercedes-Limousine und fuhren nach Manhattan zurück: »Wir haben nicht nur einen Mann begraben, sondern eine Institution«, sagte der Senior. »Karrieren, wie sie Greenstone machte, wird es wohl künftig auch in Amerika nicht mehr geben.«
Feller nickte, er wußte, daß der Verstorbene Mitte der zwanziger aus Rußland und Mitte der dreißiger Jahre aus Deutschland zur Emigration gezwungen worden war, und dann in New York, Englisch nur radebrechend, einen ungewöhnlichen Aufstieg geschafft hatte. Die Zeit dieser legendären Himmelsflüge – vom Tellerwäscher bis zum Multimillionär – war wohl endgültig vorbei.
»Soviel ich weiß, gibt es keine Erben?« fragte Feller.
»Keine persönlichen«, erwiderte Roskoe: »Wir haben den Auftrag, seine Firma zu liquidieren, den Erlös in eine Stiftung zugunsten von Kriegsopfern einzubringen. Bis zur Bestellung eines Kuratoriums – das kann noch Jahre dauern – handeln wir als Treuhänder. So betrachtet, ist Mr. Greenstone unser Klient geblieben. Wir haben freie Hand und viele, sehr viele Mittel.« Feller lächelte, er wußte, daß der Senior in der gleichen Reihenfolge an Gott, Geld und Golf glaubte, ein Mann, der mühelos puritanischen Lebenswandel mit erheblichem Erwerbssinn und mildem Alterssport verbinden konnte.
»Falsch, Henry«, sagte der Alte: »Ich werde dieses Geld nicht anrühren. Keinen Cent, außer Vertrauensspesen. Ich will Ihnen damit nur etwas umständlich sagen, daß – falls wir den Fall gleich beurteilen – Geld keine Rolle spielen würde.« Sein Gesicht wurde hart: »Ich habe heute morgen einen Brief von einem Toten erhalten, der gewissermaßen 18 Jahre an mich unterwegs war«, sagte er. Das Schreiben war bei einer Anwaltsfirma in Fort Worth, Texas, als testamentarischer Wunsch hinterlegt und an die Auflage gebunden, es uns nach dem Tod von Miriam und Aaron Greenstone auszuhändigen.«
»Warum?«
»Das werden Sie sofort begreifen, wenn Sie den Brief gelesen haben«, erläuterte Roskoe: »Nathan Greenstone, der Verfasser, wollte, daß der Tatvorgang bei der Ermordung seines älteren Bruders Joseph festgehalten wird, nicht jedoch, daß ihn seine Eltern erfahren. Diese Geschichte ist so grausam, daß er sie ihnen ersparen wollte. Nathan war damals in Texas als Bomberpilot ausgebildet worden und hat diese Verfügung unmittelbar vor seiner Versetzuhg nach Europa getroffen. Ein paar Monate später ist er gefallen. Kommen sie mit, Henry?«
»So ungefähr.«
Der alte Roskoe sah einen Moment zum Autofenster hinaus. »Miriam Greenstone war schwer herzkrank gewesen. – Ihr Mann hat die Zusammenhänge geahnt, aber nicht gewagt, sie ganz aufzuklären.«
»Die Geschehnisse liegen doch an die 20 Jahre zurück?«
»Ja.«
»Und es ist bisher nichts in der Sache unternommen worden?«
»Doch, es ist viel unternommen worden.« Der Senior Jächelte bitter. »Es ist bloß – soviel ich weiß – wenig geschehen.«
Feller sagte nichts; es war eine Antwort.
»Für mein Rechtsgefühl ist es einfach unerträglich, daß hier Mörder gewissermaßen über den Gräbern ihrer Opfer die erpreßte Millionenbeute genießen, das Blutgeld für ein Verbrechen, an dem eine ganze Familie zugrunde gegangen ist.«
»Aber der alte Greenstone wollte doch an diese Dinge nicht mehr rühren«, erwiderte Feller behutsam.
»Nicht er hat Nathans Brief bekommen, sondern wir«, entgegnete der Alte mit leichter Schärfe.
Feller nickte, er war weder störrisch noch begriffsstutzig, ein blendender Jurist, ein Pragmatiker, kein Theoretiker. Als Gegenanwalt Roskoes hatte er in einem Zivilverfahren dem Alten schwer zugesetzt, und es war bezeichnend für den Senior gewesen, daß er Feller später als Kronprinzen in seine Firma berief, da – wie er grinsend festgestellt hatte – »die Spitzenstellung von Brown, Spencer & Roskoe darauf basiere, daß sich die Kanzlei seit 90 Jahren durch Adoption fortpflanze«.
Henry W. Feller stammte aus dem Mittelwesten. Er war der Sohn deutscher Einwanderer, die aus Dortmund in die Staaten gekommen waren und sich in Milwaukee niedergelassen hatten, wo bekanntlich Milch und Bier fließen. Bereits vier Monate nach ihrer Einbürgerung war ihr einziger Sohn Henry zur Welt gekommen, und als im Land geborener Amerikaner hätte er nunmehr sogar US-Präsident werden können. Fellers Ziele waren jedoch bescheidener.
»Und was können wir unternehmen?« fragte er.
»Zunächst