Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin. Robert Heymann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Heymann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711503515
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Sie meinte, ihre Ungeduld bis dahin kaum meistern zu können. Wohin er wohl von hier aus ging? Und ob es auch wahr werden würde? Ob sie ihn wiedersehen durfte? — —

      Als die Morgenröte ihre feurigen Schwingen über die Ebene breitete, harrte sie wieder hinter den Vorhängen des Fensters. Sie sah ihn aus der Post treten. Er blieb eine Weile stehen und sah herauf. Dann griff er nach dem Stock, den er seitab an die Mauer gelehnt, und ging. Sie verfolgte seine Gestalt mit den Augen, bis er am Ende der Dorfstrasse im Buschwerk verschwand. —

      Von nun an war ihr die Einsamkeit eine vertraute Freundin. Stundenlang träumte sie in die hellen Sommertage hinein, oder sie machte sich mit Fiebereifer über die Bücher. In Ehren wollte sie vor ihm bestehen. Doch weiter noch reichte ihr Ehrgeiz.

      Ein heiliges Feuer loderte in der Tiefe ihres Wesens. Das hatte Thomas Förster entzündet.

      Es ist das Geheimnis eines schönen Lebens, dass man die Schönheit sehen lernt — hatte er gesagt. Bald würde sie andern das sein dürfen, was er ihr war und fernerhin sein würde.

      Die Schönheit sehen — das wollte sie einmal das junge Menschengeschlecht lehren . . . und wenn es ihr gelang, herrliche Saat zu streuen, so wollte sie ihm sagen: Das ist Ihr Werk.

      So wollte sie ihm danken, dass er ihre schlummernde Seele zu einem neuen Leben erweckt.

      An Liebe dachte sie nicht.

      II. Kapitel.

      Maria hielt sich jetzt meist im Speisezimmer auf, denn im Wohnzimmer standen Pfarrer und Kooperator fast unausgesetzt vor den Stehpulten oder sie arbeiteten am Schreibtisch, wenn der Beruf sie nicht abrief. Es kamen wechselweise Schreiben von der Regierung in München oder vom nahen Bezirksamt; die Stimmung wurde immer gedrückter. Dichter noch als früher lag der Schnee des Alters auf des Priesters Haupt. Die Fröhlichkeit des Kaplans war verstummt; er ging mit finsteren Mienen umher.

      Einmal hörte sie vom Fenster aus, wie er am Marktplatz einen Trunkenbold zur Rede stellte, der dem Pfarrer den schuldigen Respekt versagte. Seine Augen glühten, zornige Worte kamen von seinen Lippen.

      Sie konnte nicht verstehen, was jener antwortete. Aber aus dem Knäule der Worte löste sich eines heraus und schlug hart an ihr Ohr: „Pfarrerstochter!“

      Sie dachte den ganzen Tag darüber nach, was sie getan haben könnte, dass sich der Zorn dieses Menschen gegen sie richtete. Die hässliche Bedeutung des Wortes blieb ihr noch verschlossen. Sie folgerte nur aus dem Ton und den Mienen des Trunkenen die Bösartigkeit, die gegen sie oder gegen den Pflegevater gerichtet war. Pfarrer Händel war ihr zweiter Vater, also war sie seine Tochter.

      Aber das Wort klang in ihr nach. Instinktiv versuchte sie, die üble Bedeutung, die ihm innewohnen musste, zu enträtseln.

      Sollte etwa die schwere Zeit, die über dem Pfarrhaus lastete, auf ihre Schuld zurückzuführen sein?

      Sie durchforschte ihr Gewissen, aber sie fand nichts, dessen sie sich anklagen durfte. —

      In dem Speisezimmer stand ein altmodischer Glaskasten, reich geschnitzt, voll alten Porzellans. Der braune Divan, der schon Generationen gesehen, schmiegte sich warm an die dunkle Vertäfelung der Wand. In den Mauern befanden sich Nischen, wo Bücher standen; in einer sah man ein geschnitztes Kästchen mit dem heiligen Öl.

      Pfarrer Händel setzte sich früher gerne vor das Harmonium und spielte. Das kam in letzter Zeit gar nicht mehr vor. Maria goss mechanisch die Fuchsien und Geranien, deren rote Blüten über die Fensterstöcke hingen, und mit besonderer Sorgfalt die Lieblinge des Pflegevaters, die sorgsam gehegten Kaktusstöcke.

      Dann setzte sie sich unter das Gemälde der Madonna.

      Wenn jemals Traurigkeit sie überkam, flüchtete sie hierher. Sie wusste selbst nicht, warum gerade dieses Bild solche Anziehungskraft auf sie ausübte. Vielleicht nur, weil Pfarrer Händel es mit fast zärtlicher Liebe hielt und oft ihr Auge darauf lenkte.

      Der dunkle Rahmen schien eigens geschaffen, die schweren, feurigen Farben zu mildern. Nur Raffael hatte eine solche Harmonie irdischer Schönheit und frauenhaft-mütterlicher Güte in seinen spätesten Madonnenbildern gefunden. In der alten Pinakothek in München hatte sie ein solches Gemälde von seiner Meisterhand gesehen. Seitdem war sie bestrebt, zwischen diesem Bildnis und der Madonna Raffaels Übereinstimmungen festzustellen. Denn sie liebte die Marien des italienischen Meisters und verehrte ihn voll idedaler Kindlichkeit.

      Neben der Muttergottes hingen die uralten Familienbilder in ebensolchen schwarzen Rahmen.

      Aber nichts konnte ihr Ruhe und Frieden geben angesichts der wachsenden Unruhe im Pfarrhaus. Die Köchin ging mit verärgertem Gesicht umher und schlug die Türen, je näher der Tag ihrer Entlassung rückte. Im Dorf war eine seltsame Bewegung. Irgend jemand hatte in der Nacht aufreizende Plakate vor den Wirtshäusern angeschlagen. Sie hörte nur davon sprechen; denn morgens, als sie ausging, hatten die Bauern sie schon entfernt. Wenn sie durch das Dorf ging, fiel ihr auf, dass man sie sonderlich betrachtete. Auch über Anna Wagners Benehmen hatte sie sich nicht getäuscht. Die Freundin und deren Eltern zogen sich von ihr zurück.

      Was hatte sie getan?

      Sowohl der Pfarrer wie der Kooperator gingen nicht weiter darauf ein, wenn sie auf solche Erfahrungen zu sprechen kam. Pfarrer Händel sagte, das sei Einbildung, und der Kaplan bemerkte, die Niederbayern seien ein wenig zugängliches und leicht zu Roheiten neigendes Volk, was ihm der Pfarrer strenge verwies.

      Die Wahrheit aber war die: als nach dem Tode der seit nahezu dreissig Jahren im Pfarrhaus treu und gottesfürchtig tätigen Köchin eine neue aus München angekommen war, hatte sie es sich gleich angelegen sein lassen, die Verhältnisse im Pfarrhof nach ihrer Weise auszulegen. Dass in Raubingen eine gewisse Maria Stilke erzogen wurde, für die Pfarrer Händel regelmässig Geldbeträge einzahlte, weil er Vaterstelle an ihr vertrat, fiel ihr bald auf und stimmte sie nachdenklich.

      Pfarrer Händel gehörte nicht zu jenen Geistlichen, die in religiöser Überzeugung schematische Gedankenlosigkeit duldeten. Er räumte mit den alten Privilegien der Betschwestern auf und suchte in seinen Predigten durch einen neuen, freien Geist die Frömmigkeit der Gemeinde in edler Weise zu wecken. Der Erfolg war, dass im Laufe der Jahre säumige Kirchgänger fleissig wurden, dass an Stelle der grossgezogenen Gewohnheit ehrliche. Überzeugung, wahrer Glaube trat. Vielen aber war diese Art ein Greuel, denn sie wollten nicht aus ihrer dumpfen Gedankenlosigkeit aufgeschreckt werden und waren ärgerlich über des Pfarrers Predigten, dass nur dessen Gebet Gott gefällig sein könnte, der aus reinem Willen zum Glauben heraus seinem Schöpfer sich näherte.

      „Der Wille, Gott zu finden, führt immer zum Glauben, und der Glaube ist die Brücke zur Erlösung. Wo aber diese Brücke nicht auf den Fundamenten des wirklichen Gedankens steht, den inneres Suchen zum Grundstein wahrer Religiosität geschliffen, da ist sie wirklich auf Sand gebaut . . .“

      So wandte sich der Pfarrer gegen geschwätzige, gedankenlose Beter. Es gab manchen, der ihm übel wollte, als er vor etwa sechzehn Jahren von einem kleinen Pfarrdorf am Chiemsee zu seiner jetzigen Gemeinde versetzt ward. Bald aber fanden die, welche es ehrlich mit ihrem Glauben meinten, den wahren Kern. Ohne dass die Neider und Wühler schwiegen, mehrten sich von Jahr zu Jahr das Ansehen und die Liebe, die Pfarrer Händel genoss.

      Da brachte plötzlich die neue Köchin die Mär unter die Leute: Der Pfarrer hat eine Tochter!

      Da er nicht den Mut besitzt, sie öffentlich anzuerkennen, dies Kind der Sünde aber nicht verleugnen will, so lässt er sie als seine Pflegetochter in Raubingen erziehen!

      Die alten Weiber schworen auf die Wahrheit dieser Entdeckung. Mit den Einzelheiten hatte es ja seine Richtigkeit. Seit Jahr und Tag wusste man, dass in den Ferien die Pflegetochter auf den Pfarrhof kam. Die Mär wurde ausgebaut und aufgebauscht. Schliesslich kam sie der Regierung zu Ohren.

      Pfarrer Händel wurde vor das Bezirksamt gerufen. Der Regierungsrat ersuchte ihn um Rechtfertigung.

      Der Pfarrer, der immer aufrecht das Haupt getragen, sprach:

      „Maria Stilke ist mein Pflegekind. Das