Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin. Robert Heymann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Heymann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711503515
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Obstbaum seine Arme hochreckte, als wollte er Fruchtbarkeit vom Himmel erbitten, fiel ein dunkler Schatten in das Meer von lichtem Grün.

      „Sie werden also mein Lehrer in Raubingen sein?“ fragte Maria schüchtern.

      „Voraussichtlich. Ich bin an das dortige staatliche Seminar versetzt und im Anschluss daran von der Frau Oberin des Klosters aufgefordert worden, im geistlichen Seminar den Unterricht in Naturgeschichte und Historik zu übernehmen.“

      „Bisher lehrte Schwester Alfonsa in diesen Fächern. Wie freue ich mich, von nun an Sie zu hören . . . Sie werden uns gewiss viel, viel mehr zu sagen wissen! Ach, man dürstet förmlich nach mehr lebendigen Kenntnissen. Was erfahren wir denn eigentlich? Aus der Geschichte des Altertums kaum einige tote Zahlen, gerade so aus dem Mittelalter; höchstens, dass Schwester Alfonsa uns einen Vortrag über Klosterwesen und die Bedeutung der Geistlichkeit im Mittelalter hält . . .“

      „Die Bedeutung des Klosterwesens als Trägerin aller Gelehrsamkeit und Bildung ist gewiss nicht zu unterschätzen“, warf Thomas Förster ein. „Aber es wäre einseitig, nicht auch der gewaltigen Individualitäten zu gedenken, die aus den bewegten Zeitläuften hervorwuchsen und ihre beste Kraft und Ritterlichkeit leider an dem weltlichen Starrsinn der Päpste zersplittern mussten. Denken Sie an Canossa — an Gregor VII. und den deutschen Kaiser Heinrich IV.!“

      „Ich weiss nichts von Kanossa“, erwiderte sie und senkte beschämt das Köpfchen. Er lachte:

      „Das werden wir nachholen, Fräulein Stilke! Die geschichtlichen Daten sind tote Monumente der Geschehnisse. Wahre, lebendige Kenntnisse können wir nur aus den Ereignissen selbst schöpfen . . . am tiefsten aus der Quelle der Kulturgeschichte.

      Das Altertum zum Beispiel — diese kraftstrotzende Zeit der Schönheit — wie kann man diesen Spiegel des höchsten Menschtums, da die Götter auf die Erde stiegen, um Menschen zu werden, und die Helden von Troja sich Söhne der Götter nannten, aus belanglosen Ziffern verstehen wollen? Die Zeit, da sich um den Ruhm, Homer geboren zu haben, sieben Städte stritten! Wer weiss, ob aus der Ära, in der wir leben, ein Name zwei Jahrtausende überdauern wird! Völkerwanderungen, zerbrochene Reiche und Kronen konnten den Witz eines Horaz, die Liebenswürdigkeit des schönen Vergilius, die Werke Juvenals nicht zum Erlöschen bringen. Kann man die Geschichte der Menschheit verstehen, ohne das Altertum zu begreifen? Ohne Praxiteles, Phydias, ohne Apollo und Aphrodite?“

      „Wir bekommen nichts von alle dem gelehrt! Aber wir sehnen uns danach!“

      Er sprach sich voll Begeisterung in seinen Lehrplan hinein, der allerdings wenig mit dem Schema der Schule gemein hatte: „Ich werde Ihnen von den Nadeln der Kleopatra erzählen, die zu Persepolis im Glanze des Morgens gegen Himmel strahlten, von den Pyramiden zu Memphis, wo Weltenkönige schlafen, von den üppigen Ufern des syrischen Nil, wo Babylon thronte, die Königin der Städte, wo die Gärten der Semiramis in Blüte standen.

      Wir werden mit Griechenlands Gottheiten noch einmal die Welt, die nicht mehr ist, erstehen sehen, wie Gäa, Tartaros und Eros sich zum Leben vereinigten, die Welt zu schaffen.

      Ich werde Ihnen von Aegyptens Sonnengott Ra erzählen, der auf goldener Barke durch die Fluten des Himmels segelte, von Lybiens Neith und Pelusiens Bastet, von Osiris und Iris . . .“

      „Sie lieben diese versunkene Zeit?“ fragte Maria; sie las seine Worte mit den Augen von seinen Lippen, obgleich sie kaum verstand, was er sprach.

      „Ja, Wir haben so vieles verloren und unsere Kultur hat uns kaum etwas dagegen gegeben . . .“ Er unterbrach sich lächelnd. „Wenn ich in Raubingen nur mehr solch aufmerksame Schülerinnen finde wie Sie find, Fräulein Stilke, dann wird mir reichlicher Lohn für meine Tätigkeit werden!“

      „Alle werden Ihnen so zuhören, denn alle tragen das Verlangen in sich, zu lernen . . . Glauben Sie nicht, Herr Förster, dass wir, wenn wir erst das Seminar verlassen haben und draussen stehen im Leben, vor den Kindern, deren Geist wir nicht nur bilden, sondern auch erheben sollen, denen wir nicht nur Weisheit, sondern auch Schönheit geben müssen, recht arm find an Erfahrung?“

      „So ist es! Aller Schematismus ist Schatten. Im Leben scheint die Sonne! Böhm und Helm werden Ihnen nicht über die Klippen, die Sie in der Praxis finden werden, hinweghelfen, nicht Rousseau, nicht Fröbel oder Pestalozzi werden Ihnen die Probleme, vor denen Sie sich finden werden, lösen. Die rechte Fühlung mit der Schönheit im Leben finden, heisst erst, es zu verstehen. Wer aber das Leben versteht und liebt, der findet sich in jedem Beruf leicht mit allen Schwierigkeiten ab.“

      „Sie haben viel gelesen!“

      „Ich habe mich bemüht, einiges zu lernen. Und dann war ich doch auch schon in der Praxis Lehrer, habe nach dem Staatskonkurs die Universität besucht und es schliesslich über den Präparandenlehrer hinweg zum Seminarlehrer gebracht. Mein Streben ging allerdings einstmals weiter“, schloss er mit leiser Stimme. Als wollte er sich selbst von dem Thema abbringen, fragte er unvermittelt:

      „Gefällt Ihnen Raubingen?“

      „O ja! Wir kommen allerdings kaum aus dem Kloster heraus. Aber muss man denn immer alles sehen, um davon zu träumen? Da ist das Schloss des Herzogs Albrecht III., und in der St. Peterskirche das Grabmal der schönen Agnes, über das sich eine Kapelle wölbt.“

      „Gewiss schwärmen Sie für die berühmt gewordene Tochter des Augsburger Baders?“ fragte er lächelnd.

      „Ja . . . weil selbst ihr schrecklicher Tod durch die Treue ihres herzoglichen Gemahls verklärt ist . . .“

      Er nickte.

      „Treue ist der wahre Adel im Leben, denn sie birgt alle Tugenden.“

      „Wie schön das ist, was Sie da sagen. Doch meine ich, dass dieser Adel nicht ererbt werden kann und alle Vorrechte aufhebt. Denn er ist ein Privilegium des Charakters.“

      Er sah in ihre Augen und erstaunte über die Schätze ihrer Seele, die sich blitzschnell vor ihm entschleierten. Die Pupillen verloren für Sekunden die mädchenhafte Herbheit und wurden frauenhaft und tief.

      Ich werde lange über das nachdenken können, wovon Sie sich heute mit mir unterhielten“, sagte sie nach einer Weile. „Niemals hat jemand so schön zu mir gesprochen. Nie hat mich jemand gelehrt, so zu sehen.“

      „Es ist das Geheimnis eines schönen Lebens, Fräulein Stilke, dass man die Schönheit sehen lernt.“

      Das Kind blieb stehen, legte die Arme ein wenig zurück und liess das Haupt in den Nacken sinken. Sie sah visionär aus mit dem bleichen Antlitz und dem schwarzen Kleid, das knapp die junge Figur umspannte.

      „Wollen Sie es mich lehren?“

      Er erschrak und antwortete nicht.

      Da senkte sie das Haupt; schweigend schritten sie dem Pfarrhause zu. —

      Am Abend begab er sich in Gesellschaft des Pfarrers und des Kaplans hinweg. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, ihn zu sehen. Abends blieb sie auf, bis der Pflegevater zurückehrte.

      „Seminarlehrer Förster konnte sich nicht mehr verabschieden, Kind. Er setzt seine Reise schon morgen um fünf Uhr fort.

      Sie nickte scheu und atmete auf, als sie in ihrem Mädchenzimmer angekommen war. Sie löste das schwere Haar, aber sie wagte nicht, in den Spiegel zu sehen. Stunden sass sie auf ihrem Lager und blickte in das Mondlicht, das durch das Fenster flutete. Drunten auf dem Marktplatz plätscherte eintönig der Brunnen.

      Sie dachte: einer von jenen, die die Schönheit suchen, ist auch er.

      In ihrer Phantasie, die noch halb im Kindlichen wurzelte, verglich sie ihn mit glänzenden Vorbilden: Mit Siegfried, dem Nibelungenhelden, oder St. Georg, dem Drachentöter, oder den Rittern Parzival und Lohengrin, und der goldene Schein des heiligen Gral, der die Sehnsucht aller Edlen im Geiste bleibt, leuchtete auch über ihm.

      Während sie sich am Morgen noch voll inbrünstiger Freude der Freiheit der Ferien hingegeben, wünschte sie jetzt schon wieder sehnlichst, in das Seminar zurückkehren zu können.

      Er sollte