Ich schloß in dieser Nacht kein Auge. Mein Inneres befand sich in einem wilden Aufruhr. Zwar fühlte ich, daß daraus Ordnung entstehen könnte, aber ich besaß keine Kraft, sie zu verwirklichen. Erst allmählich, als schon die Morgendämmerung hereinbrach, kam der Schlaf. Nach dem Erwachen schien alles nur ein wirrer Traum gewesen zu sein. Es blieb einzig der Entschluß, meine alten Studien wieder aufzunehmen und mich einer Wissenschaft zu widmen, für die ich eine natürliche Begabung zu haben glaubte. Am selben Tage besuchte ich Professor Waldmann. Sein Benehmen in der privaten Sphäre war noch gewinnender als in der Öffentlichkeit. Während seiner Vorlesung hatte eine gewisse Würde seine Miene beherrscht, die in seinem eigenen Haus einer großen Leutseligkeit und Freundlichkeit Platz machte. Ich berichtete ihm genau dasselbe über meine früheren Ziele wie seinem Kollegen. Er hörte aufmerksam dem kurzen Bericht über meine Studien zu und lächelte bei den Namen von Cornelius Agrippa und Paracelsus, jedoch ohne die Verächtlichkeit, die Professor Krempe gezeigt hatte. Er meinte dann: »Das sind Männer, deren unermüdlichem Eifer die modernen Denker größtenteils die Grundlagen ihres Wissens verdanken. Sie waren in hohem Grade die Instrumente bei der Entdeckung von Fakten, die wir benennen und klassifizieren, was oftmals eine leichtere Aufgabe ist. Die Anstrengungen genialer Männer, auch wenn sie in die falsche Richtung zielen, werden letztlich fast immer zu einem dauerhaften Gewinn für die Menschheit.«
Auf diese Bemerkung hin, die ohne jede Anmaßung oder Heftigkeit war, erwähnte ich, daß seine Vorlesung meine Vorurteile gegen die moderne Chemie beseitigt habe. Ich drückte dies in maßvollen Redewendungen aus und befleißigte mich der Bescheidenheit und Ehrerbietung, die sich für einen jungen Menschen gegenüber seinem Lehrmeister gebührt. Allerdings ließ ich mir auch nicht die geringste Begeisterung über meine beabsichtigten Arbeiten anmerken, denn das Eingeständnis meiner mangelnden Lebenserfahrung hätte mich beschämt. Ich bat ihn um seinen Rat wegen der Bücher, die ich mir besorgen sollte.
»Ich freue mich«, entgegnete Professor Waldmann, »wieder einen Schüler gewonnen zu haben. Wenn Ihr Fleiß Ihren Fähigkeiten entspricht, zweifle ich nicht an Ihrem Erfolg. Die Chemie ist derjenige Zweig der Naturwissenschaft, der die größten Fortschritte aufweist und noch größere verspricht. Aus diesem Grunde habe ich sie für mein spezielles Studium gewählt, gleichzeitig aber die anderen Zweige der Wissenschaft nicht vernachlässigt. Wer nur diese Sparte des menschlichen Wissens pflegte, würde ein armseliger Chemiker sein. Wenn Sie wirklich ein echter Wissenschaftler werden wollen und nicht nur ein unbedeutender Experimentator, dann müssen Sie sich mit allen Zweigen der Naturwissenschaft, einschließlich der Mathematik, beschäftigen. Das ist mein Rat.«
Darauf führte er mich in sein Laboratorium und erklärte mir die Handhabung der verschiedenen Apparaturen. Er schlug mir auch einige Anschaffungen vor und versprach mir zuletzt, daß ich seine eigenen Instrumente benützen dürfe, sobald mein weitergediehenes Wissen ihren Mechanismus nicht mehr schädigen würde. Nachdem er mir die Liste der erbetenen Bücher überreicht hatte, verabschiedete ich mich.
So endete ein für mich denkwürdiger Tag; er bestimmte mein zukünftiges Schicksal.
4. KAPITEL
Von nun an wurde die Naturwissenschaft, besonders die Chemie, buchstäblich meine einzige Beschäftigung. Ich las hingerissen die von Genialität und Unterscheidungsschärfe funkelnden Werke der modernen Forscher. Ich besuchte die Vorlesungen und pflegte die Bekanntschaft mit den Männern der Wissenschaft an der Universität. Ich gestand sogar Professor Krempe beachtlich viel Verstand und Kenntnis zu, derentwegen er wertvoll für mich war; sein abstoßendes Äußeres und seine schlechten Manieren waren allerdings nicht zu übersehen. In Professor Waldmann fand ich einen wahren Freund. Seine Sanftmut wurde niemals durch einen gebieterischen Ton gestört. Seine Unterweisungen erteilte er mit derartiger Offenheit und Gutmütigkeit, daß jeder Eindruck der Pedanterie, verschwand. Auf tausenderlei Weisen ebnete er mir den Pfad des Wissens und gestaltete die schwierigen Kapitel leicht verständlich für meine Fassungskraft. Mein Fleiß war anfänglich recht wechselhaft; bald wurde er aber stetiger und wuchs sich schließlich zu einem geradezu besessenen Eifer aus. Die Sterne erloschen oft schon im Morgenlicht, während ich noch immer in meinem Laboratorium arbeitete.
Bei dieser ausschließlichen Hingabe an die Sache waren meine gewaltigen Fortschritte durchaus verständlich. Meine Begeisterung erregte das Erstaunen der Studenten und mein Können das der Lehrer. Professor Krempe fragte mich oft mit schalkhaftem Schmunzeln, welche Fortschritte Cornelius Agrippa mache. Professor Waldmann dagegen versicherte mir seine aufrichtige Freude.
So vergingen zwei Jahre. Währenddessen dachte ich an keinen Besuch in Genf, sondern jagte mit Herz und Geist hinter verschiedenen Entdeckungen her. Nur wer sie selbst erfahren hat, kann die Verlockungen der Wissenschaft begreifen. In den üblichen Bildungszweigen ist das Ziel bereits von den Vorgängern abgesteckt; Neues kann man nicht mehr erfahren. Bei einer naturwissenschaftlichen Arbeit aber besteht immer die Möglichkeit für neue Entdeckungen, für Wunder. Ein Geist von mittelmäßiger Fassungskraft, der sich diesem Studium widmet, kann zweifellos gute Leistungen erreichen; wer jedoch wie ich unaufhörlich ein Ziel anstrebt und ganz von ihm in Anspruch genommen ist, gelangt sprunghaft voran. Nach zwei Jahren waren mir tatsächlich einige Verbesserungen an chemischen Instrumenten gelungen, die mir großes Ansehen an der Universität verschafften. An diesem Punkt angekommen, war ich mit der Theorie und Praxis der Naturwissenschaft vertraut geworden (was ich dem Unterricht der Professoren von Ingolstadt verdankte), und ein längerer Aufenthalt schien für meine Weiterbildung nicht mehr förderlich. Ich dachte daran, zu meinen Freunden in der Heimat zurückzukehren, als sich etwas ereignete, das mich zum Bleiben veranlaßte.
Eine der Erscheinungen, die meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf sich gezogen hatte, war die Beschaffenheit des menschlichen Skeletts und überhaupt jeden lebendigen Wesens. Woher, fragte ich mich oft, kam das Prinzip des Lebens? Es handelte sich um eine kühne Frage und um eine, deren Beantwortung immer für ein Geheimnis gehalten wurde, doch gibt es viele Dinge, die wir erkennen würden, wenn nicht Feigheit und Nachlässigkeit uns von der Erforschung abhielten. Ich überlegte mir das und beschloß, mich in Zukunft vordringlich mit jenen Zweigen der Naturwissenschaft zu beschäftigen, die Bezüge zur Physiologie aufweisen. Wäre ich nicht von einem fast übernatürlich anmutendem Enthusiasmus angefeuert worden, hätte ich meine Beschäftigung mit diesem Gebiet sicherlich ermüdend, wenn nicht gar unerträglich gefunden. Um die Ursachen des Lebens zu untersuchen, müssen wir uns zunächst dem Tode zuwenden. Ich studierte die Wissenschaft der Anatomie, aber das genügte nicht. Ich mußte auch den natürlichen Verfall und die Fäulnis des menschlichen Körpers beobachten. Mein Vater hatte bei meiner Erziehung die größte Vorsicht walten lassen, daß ich nicht durch abseitige Schrecknisse Schaden erleide. Ich erinnere mich nicht, bei einer abergläubischen Geschichte gezittert oder die Erscheinung eines Geistes gefürchtet zu haben. Die Dunkelheit bedeutete nichts für meine Phantasie; ein Friedhof war für mich nur der Aufnahmeort für Körper ohne Leben, die zur Nahrung der Würmer wurden, nachdem sie einstmals Wesen voll Schönheit und Kraft dargestellt hatten. Nun sah ich mich gezwungen, die Ursachen und den Ablauf dieses Verfalls zu untersuchen sowie Tage und Nächte in Gewölben und Leichenhallen zu verbringen. Meine Forschung richtete sich auf alle jene Gegenstände, die der Zartheit menschlicher Gefühle meistens zuwider sind. Ich beobachtete, wie die schöne Gestalt des Menschen zerfiel und der Verwüstung anheimgegeben war. Ich sah die Fäulnis des Todes über die blühende Wange des Lebens siegen. Ich schaute zu, als dem Wurm die Wunder des Auges und des Gehirns zur Beute fielen. Ich sammelte mich, um die Ursachen, die den Wechsel von Leben zu Tod und von Tod zu Leben bedingen, im einzelnen zu prüfen und zu analysieren, als aus der tiefsten Dunkelheit eine jähe Helle aufleuchtete. Dieser Lichtstrahl glich einem Wunder und war doch ganz einfach. Während mir von der Ungeheuerlichkeit der eröffneten Aussicht schwindelte, staunte ich dennoch, daß es mir allein unter so vielen Forschern von Genie vorbehalten sein sollte, ein solches Geheimnis zu lüften.
Ich möchte daran erinnern, daß ich nicht die Einbildung eines Verrückten schildere. Das im folgenden Erzählte ist nicht weniger gewiß als der Sonnenglanz