Von da an befeuerte ein neuer Lebensgeist die verfallende Gestalt des Fremden. Er zeigte den größten Eifer, an Deck zu gelangen, um nach dem Schlitten zu sehen, der damals beobachtet wurde; ich überredete ihn aber, in der Kajüte zu bleiben, denn er ist viel zu schwach, als daß er das rauhe Klima ertragen könnte. Ich mußte versprechen, daß jemand für ihn Ausschau halten und ihm sofort Nachricht geben würde, wenn irgendein neuer Gegenstand in Sichtweite auftauchen sollte.
Soweit mein Tagebuch, das über das seltsame Ereignis bis zum heutigen Tag berichtet. Der Gesundheitszustand des Fremden hat sich allmählich gebessert, aber er ist sehr schweigsam und wird unruhig, sobald jemand außer mir die Kajüte betritt. Jedoch wirken seine Umgangsformen so versöhnend und vornehm, daß die Matrosen alle Interesse für ihn zeigen, obwohl sie kaum Verbindung mit ihm haben. Ich selbst fange an, ihn wie einen Bruder zu lieben; sein anhaltender und tiefer Kummer erfüllt mich mit Zuneigung und Mitleid. Er muß in seinen besseren Tagen ein ausgezeichneter Mensch gewesen sein, da er sogar als Wrack noch so anziehend und liebenswert erscheint.
Ich klagte Dir in einem meiner Briefe, liebe Margret, daß ich auf dem öden Ozean keinen Freund finden könne. Jetzt habe ich einen Mann gefunden, den ich als Herzensbruder hätte besitzen mögen, ehe sein Geist von Elend zerrüttet wurde.
Ich werde mein Tagebuch, soweit es den Fremden betrifft, in Abständen fortsetzen, falls sich Neues ereignet.
Den 13. August 17 . .
Meine Zuneigung für meinen Gast wächst täglich. Er ruft in mir zu gleicher Zeit Bewunderung und Mitleid in höchstem Grad hervor. Wer kann solch einen vorzüglichen Menschen von Leiden gepeinigt sehen, ohne selbst nagenden Kummer zu empfinden? Er ist gütig und klug, sein Geist ist gebildet. Wenn er spricht, strömen seine Worte, obwohl sie trefflichst gewählt sind, flüssig und unvergleichlich beredsam dahin.
Er hat sich nun weitgehend von seiner Krankheit erholt und befindet sich ständig an Deck, anscheinend um Ausschau nach dem Schlitten zu halten, der seinem eigenen voraneilte. Zwar ist er vom Unglück gezeichnet, doch beschäftigt er sich nicht ausschließlich mit seinem eigenen Elend, sondern kümmert sich um die Plane anderer. Häufig unterhielt er sich mit mir über die meinen, die ich ihm ohne Heimlichtuerei mitteilte. Er ging aufmerksam auf alle Argumente zugunsten meines möglichen Erfolgs ein, sogar auf jedes winzige Detail der Maßnahmen, die ich getroffen hatte, um ihn zu sichern. Die Teilnahme, die er mir erwies, indem er die Sprache meines Herzens benützte, veranlaßte mich, die geheimsten Absichten meines Innern aufzudecken. Voll Leidenschaft sagte ich ihm, wie gern ich mein Vermögen, meine Existenz, meine ganze Hoffnung dem Erfolg meines Unternehmens opfern würde. Leben oder Tod eines Menschen wären nur ein geringer Preis für den Gewinn des Wissens, den ich suchte, für die Herrschaft, die ich über die elementaren Feinde der Menschheit erlangen, die ich weiterreichen würde. Während ich sprach, breitete sich ein Schatten auf dem Gesicht meines Zuhörers aus. Ich bemerkte zunächst, daß er seine Bewegung zu unterdrücken suchte, denn er hob die Hände vor seine Augen. Meine Stimme versagte, als ich Tränen zwischen seinen Fingern hindurchquellen sah und ein Stöhnen aus seiner Brust brach. Ich verstummte, und er sprach mit stockender Stimme: »Unseliger! Sind auch Sie diesem Wahn verfallen? Haben auch Sie aus diesem Giftbecher getrunken? Hören Sie mich an – ich will Ihnen meine Geschichte enthüllen, und Sie werden den Becher von Ihren Lippen schleudern!«
Diese Worte erregten, wie Du Dir denken kannst, meine Neugierde in ungemeiner Weise. Heftige Schwermut suchte den Fremden heim und besiegte seine geschwächten Kräfte; viele Stunden der Entspannung und ruhiger Unterhaltung waren nötig, um seinen Gemütszustand wieder auszugleichen.
Als er die Unrast seiner Gefühle überwunden hatte, schien er sich selbst zu verachten, weil er der Sklave seiner Leidenschaften geworden war. Nun unterdrückte er die düstere Tyrannei der Verzweiflung und regte mich dazu an, Dinge zu besprechen, die meine eigene Person betrafen. Er erkundigte sich nach der Geschichte meiner früheren Jahre. Das war schnell erzählt, doch ergab sich daraus manche Überlegung. Ich sprach von meinem Wunsch, einen Freund zu finden, von meinem Durst nach tieferer Sympathie für einen verwandten Geist, was mir bisher verwehrt geblieben war. Ich drückte meine Überzeugung aus, daß sich ein Mensch auch nicht des geringsten Glückes rühmen dürfe, der diesen Segen nicht genossen habe.
»Ich gebe Ihnen völlig recht«, antwortete der Fremde, »wir sind ungeformte Geschöpfe, halb vollendet nur, falls nicht ein Klügerer, Besserer, Wertvollerer als wir selbst (ein Freund sollte so beschaffen sein) uns hilft, unsere schwachen und mängelreichen Naturen zu vervollkommnen. Ich besaß einst einen Freund, der ein wahrhaft edler Mensch war, und fühle mich daher berechtigt, über Freundschaft zu urteilen. Sie können hoffen, die Welt liegt vor Ihnen: Sie haben keine Ursache zur Verzweiflung. Aber ich habe alles verloren und kann das Leben nicht neu beginnen.«
Während er so redete, spiegelte sein Gesicht einen stillen, stetigen Schmerz wider, der mich tief berührte. Er blieb jedoch schweigsam und zog sich bald in seine Kajüte zurück.
Obwohl sein Inneres von Leid geprägt ist, kann niemand die Schönheiten der Natur tiefer empfinden als er. Der Sternenhimmel, das Meer und jeder Anblick, den diese wunderreiche Gegend bietet, scheinen eine erhebende Gewalt über seine Seele auszuüben. Einem solchen Mann ist eine doppelte Existenz gegeben: Er kann leiden, er kann von Enttäuschungen überwältigt werden, und dennoch – zieht er sich in sich selbst zurück, wird er einem himmlischen Geist ähnlich, der eine Aura um sich trägt, in deren Kreis sich weder Schmerz noch Torheit wagen.
Lächelst Du über die Begeisterung, die mich befällt, sobald ich auf diesen begnadeten Wanderer zu sprechen komme? Wenn Du ihn kennen würdest, gewiß nicht. Gebildet durch Bücher und geprägt durch Dein zurückgezogenes Leben, bist Du anspruchsvoll geworden. Das macht Dich um so geeigneter, die außergewöhnlichen Züge dieses wunderbaren Menschen zu schätzen. Ich habe mich bereits bemüht, die Eigenschaft herauszufinden, die ihn so unermeßlich weit über jede mir bisher bekannte Person hinaushebt. Ich glaube, es ist seine intuitive Begabung, seine schnelle, niemals fehlgehende Urteilskraft, sein Eindringen in die Ursachen der Dinge, unvergleichlich an Klarheit und Genauigkeit. Hinzu kommt eine entsprechende Ausdrucksfähigkeit und eine Stimme von musikalischer Tönung, die andere Menschen bezaubert.
Den 19. August 17 . .
Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie werden bemerkt haben, Kapitän Walton, daß ich großes und unvergleichliches Mißgeschick erlitten habe. Ich beschloß einst, die Erinnerung an diese Übel solle mit mir sterben. Sie haben mich veranlaßt, meinen Entschluß zu ändern. Sie suchen nach Wissen und Weisheit wie ehedem ich. Ich hoffe fest, daß die Erfüllung Ihrer Wünsche nicht zur Schlange wird, die Sie beißt, wie mich. Ich weiß nicht, ob die Erzählung meines Unglücks Ihnen nützlich sein wird. Wenn ich aber überlege, daß Sie die gleiche Richtung einschlagen, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem gemacht haben, was ich jetzt bin, dann stelle ich mir vor, daß Sie eine brauchbare Lehre aus der Geschichte ziehen können – eine, die Sie geleitet, wenn Ihr Unternehmen glückt, und Sie im Falle des Mißerfolges tröstet. Bereiten Sie sich vor, von Ereignissen zu hören, die gewöhnlich für unglaubwürdig gehalten werden. Wären wir in wohlgepflegten Landschaften, dann müßte ich fürchten, Ihrem Unglauben zu begegnen, vielleicht Ihrem Spott; aber in diesen wilden und geheimnisreichen Gegenden werden viele Dinge möglich erscheinen, die das Gelächter all jener hervorrufen würden, denen die stets veränderlichen Kräfte der Natur nicht vertraut sind. Ich zweifle nicht, daß meine Geschichte durch ihren Verlauf einen Wahrheitsbeweis für die berichteten Geschehnisse liefert.«
Ich war aufs höchste erfreut über sein Angebot, wenn ich auch ungern dulden wollte, daß sein Schmerz durch die Wiedergabe seiner Mißgeschicke erneuert würde. Allerdings hätte ich sehr gern die versprochene Erzählung gehört, einmal aus Neugierde, zum anderen wegen meiner festen Absicht, sein Geschick zu bessern, soweit es in meiner Macht stand. Ich drückte diese Empfindungen in meiner Erwiderung aus.
»Ich danke Ihnen«, antwortete er, »für Ihr Mitgefühl, aber es ist nutzlos, da mein Schicksal fast vollendet ist. Ich erwarte nur noch ein Ereignis; dann werde ich in Frieden ruhen. Ich verstehe Ihre Gefühle«, fuhr er rasch fort, als er wahrnahm, daß ich ihn unterbrechen wollte,