Frieda Giefner erhob sich schwerfällig. Ein seltsamer Ausdruck stand in ihren Augen, und für eine Weile war sie gedanklich weit, weit weg.
Er konnte in diesem Augenblick nachempfinden, was diese Frau empfand. In wenigen Minuten würde alles, für das sie gearbeitet hatte, im Schlamm versinken. Wenn kein Wunder geschah, dann verlor sie vielleicht sogar ihren Mann.
»Ich gehe«, erklärte sie tonlos. »Aber was wird aus meinem Sebastian?« Mit Tränen in den Augen betrachtete sie ihn. Sie wusste, dass sie nicht in der Lage war, ihm zu helfen.
»Ich kümmere mich um ihn«, versprach Raphael, obwohl ihm klar war, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden, den schweren Mann durch den zähen Schlamm in Sicherheit zu bringen. Er hatte es kaum alleine geschafft, ihn zu überwinden.
Einen Augenblick lang blickte ihn die Frau dankbar, aber auch ein wenig skeptisch an.
»Rasch, raus hier!«, verlangte Raphael und lud sich den bewusstlosen Mann auf die Schulter.
Giefner war schwer, doch er traute es sich zu, ihn eine Weile zu tragen. Die Bäuerin gehorchte ihm und öffnete die Tür. Als sie den kniehohen Schlamm sah, verließ sie der Mut.
»Das kann ich net«, sagte sie konsterniert. »Nein, da komme ich niemals durch.«
»Versuch’s wenigstens!«, keuchte der junge Mann und stellte sich knapp hinter sie, so dass Frieda Giefner nicht zurückweichen konnte.
Sein Blick folgte dem Hang zum Berg hinauf, und es gefror ihm fast das Herz, als er sah, wie der Schlammwall immer höher zu werden schien. Überall ragten zerborstene Stämme wie bizarre Speerspitzen in den Himmel.
Wehe, wenn der Damm in den nächsten Minuten zerbrach und seine ganze Kraft frei wurde. Dann waren sie rettungslos verloren. Mitsamt dem Berghof würden sie in die Tiefe gerissen und vielleicht niemals gefunden.
Widerwillig stapfte die Bäuerin in die graue Masse. Schmatzend schloss er sich um Füße und Beine und gab sie nur widerwillig wieder frei. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Bereits nach wenigen Metern merkte Raphael, dass das Gewicht des Mannes für ihn zu groß war. Da Sebastian Giefner wie leblos über seiner Schulter hing, war er doppelt schwer.
Die Frau blickte sich um. Sie hörte sein Schnaufen und Keuchen und ahnte, dass er mit seinen Kräften am Ende war. Als ob gierige Hände im Sumpf nach ihnen griffen und sie in die Tiefe zu zerren versuchten, wurden ihre Schritte immer langsamer.
Sehnsüchtig starrte Raphael nach vorne. Der Schweiß perlte von seiner Stirn und in die Augen. Es brannte fürchterlich, doch er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich von dieser Pein zu befreien.
Wo nur blieben Johanne und der Vater?
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Dabei hätten sie längst oben am Hang auftauchen müssen.
Für einen kurzen Augenblick keimte ein böser Verdachten ihm auf, den er jedoch sofort wieder verwarf. Nein, er konnte es sich nicht vorstellen, dass Knut Harlander in größter Not seine Hilfe versagte. Dazu war er nicht fähig, obwohl er der sturste Mensch war, den Raphael kannte.
Oder etwa doch? War der Hass so groß, dass er selbst seinen einzigen Sohn dafür opfern würde.
Er erhielt keine Antwort. Stattdessen gab es plötzlich einen berstenden Knall, ein zweiter folgte. Danach füllte sich die Luft mit einem dumpfen Grollen und Rauschen.
Raphael standen die Haare zu Berge, als er unwillkürlich nach rechts schaute.
»Schneller!«, schrie er Frieda Giefner zu. »Schneller!«
Die Frau hatte die Gefahr ebenfalls erkannt. In ihrer Angst kreischte sie wie von Sinnen, verlor das Gleichwicht und fiel nach vorne. Über und über mit klebrigem Schlamm verdreckt kam sie wieder auf die Beine, während zwei Steinwürfe weiter oberhalb am Hang das Inferno losbrach.
Mit einem peitschenden Krachen zerbarst der bizarre Damm aus niedergerissenen Tannen, Wurzelwerk und Felsgestein an der Bergflankenseite. Fauchend drückte sich das gischende Wasser des Wildbaches durch den Spalt, der rasch größer wurde. Die Schlammassen ergossen sich, ohne dass irgendetwas sie hätte aufhalten können, in die vom Wasser des Baches tief in den Fels gefressene Schlucht und donnerte zu Tal.
Nur die Tatsache, dass der westliche Teil des Dammes dem gewaltigen Druck des Wassers noch standhielt, verhinderte die Katastrophe und totale Vernichtung des Berghofs.
Aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Ein Teil des Wassers wurde abgelenkt und kam den Hang herunter. Nur wenige Sekunden vergingen, und sie bekamen das eiskalte Wasser zu spüren. Sprudelnd weichte es den Schlamm auf und spülte Wurzelwerk und Tannenäste mit sich.
Raphael merkte, wie ihm durch die unmenschliche Kraftanstrengung sehr schwindelig wurde. Seine Knie wurden weich, und nur noch wie durch einen Schleier sah er, dass es die Bäuerin endlich geschafft hatte, sich aus dem Schlamm zu befreien.
Er jedoch musste einen Augenblick stehenbleiben. Es brannte wie Feuer in seinem Hals. In diesem Moment wäre er nicht in der Lage gewesen, auch nur einen Schritt weiterzugehen.
Das Krachen und Rauschen über und hinter ihm ließ nicht nach. Immer noch wälzten sich gewaltige Schlamm- und Geröllmassen Richtung Tal.
Da sah er zwei Gestalten den Hang unterhalb des Waldes heranlaufen. Er erkannte sofort, wer es war.
Johanne und sein Vater.
Das war der Augenblick, in dem er zu wanken begann und nicht mehr wusste, wie lange er durchhalten würde. Langsam entglitt der ohnmächtige Giefner seinen Armen.
»Halt durch, Bub!«, vernahm er die Stimme seines Vaters. »Ich komm, Bub.«
Wenig später sah er, wie Knut Harlander mit einem großen Satz in den Schlamm sprang. Mit aller Macht bahnte er sich, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben, einen Weg durch den Morast zu seinem Sohn. Nur einmal blickte er zu den Schlammassen hinauf, die jeden Moment auf sie niederstürzen konnten. Er zögerte nicht, sondern verstärkte seine Anstrengungen.
Endlich hatte er Raphael erreicht und packte fest zu. Mit einer Leichtigkeit, die man dem kleinen, korpulenten Mann nicht zugetraut hatte, nahm er ihm die menschliche Last ab.
»Ganz ruhig, Bub«, machte er Raphael Mut, obwohl er sah, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Nur noch ein paar Meter. Komm, halt dich an mir fest! Gemeinsam schaffen wir es schon!«
Der junge Mann nickte hastig. Er biss auf die Zähne und mobilisierte seine letzten Reserven. Keine zehn Meter von ihm entfernt wartete seine große Liebe, während zu seiner Rechten der Tod auf eine Chance lauerte.
»Wach auf, Giefner!«, knurrte Knut Harlander. »Ein bisserl könntest du schon mithelfen, anstatt dich tragen zu lassen.«
Raphael wusste, dass es nicht böse gemeint war. Sein Vater machte sich nur selbst Mut, denn das drohende Verderben zerrte an den Nerven, während sie sich durch die Schlammassen wälzten.
Dann endlich war es geschafft.
Mit vereinten Kräften liefen sie den Hang hinauf, bis sie sich in absoluter Sicherheit befanden.
Während sie Sebastian Giefner auf Raphaels Jacke betteten, damit er nicht im nassen Gras liegen musste, tauchte Helga Harlander mit Decken und einer Thermoskanne heißen Tee und einer Flasche Enzian auf. Entsetzt sah sie, wie es stand. Doch aller Schrecken wich, als sie feststellte, dass alle zwar voller Dreck, aber sonst unversehrt waren. Nur Raphael machte einen völlig erschöpften Eindruck. Auch Sebastian Giefner war noch nicht aus seiner Ohnmacht erwacht.
»Oh, mein Gott«, murmelte sie, als sie den Schlammdamm erblickte. Sie schauderte. Ihr Magen verkrampfte sich, wenn sie daran dachte, dass sich Raphael dieser Gefahr ausgesetzt hatte, um die Giefners aus ihrem Gefängnis zu befreien.
Wieder erscholl ein bestialisches Krachen, dass jedem durch die Glieder fuhr. Johanne schrie entsetzt auf, während Frieda Giefner kreidebleich wurde. Die