Engadiner Abgründe. Gian Maria Calonder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gian Maria Calonder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700050
Скачать книгу
und jeder spielt das Spiel mit. Gleichzeitig schämen wir uns immer ein bisschen für uns. Wir denken, das muss doch auffliegen, dass wir in Wahrheit nur ein Bauernkaff im schnieken Anzug sind. Aber soll ich dir was sagen? Auch die meisten Reichen, die hierherkommen, um Ferien zu machen, sind nur Bauern im schnieken Anzug. Und mit Ehrlichkeit wurde keiner von ihnen reich. Deshalb mögen sie es hier wohl auch.«

      Inzwischen hatte Capaul auf Rudis Visitenkarte nachgesehen, es stimmte. R. Pinggera, Gesprächspartner, stand da in silberfarbenen Lettern. »Wie war Rudi unehrlich?«, fragte er.

      Bernhild tat ihm ungefragt eine dritte und vierte Essiggurke auf den Teller, dafür war er sehr dankbar, dabei sagte sie: »Rudi hat gar keine Olympiamedaille. Sie wurde ihm aberkannt. Er wollte Gold, nicht Silber, und hat deshalb nach dem Rennen behauptet, der Sieger, ein Österreicher, hätte an einer Stelle, an der keine Kamera stand, ein Tor ausgelassen. Die Streckenposten hatten aber nichts gesehen. Dafür sagte dann der Österreicher: ›Messt lieber mal dem Pinggera seine Bindungsplatten nach.‹ Und die waren zwei Millimeter zu hoch, oder zwei Hundertstel oder zwei Tausendstel. Da konnte er die Silberne auch abgeben, und das Schlimmste: Jetzt waren zwei Oberösterreicher auf dem Podest und ein Südtiroler.«

      »Was ist daran schlimm?«

      Bernhild lachte fröhlich. »Dass wir in Tat und Wahrheit alle eine Familie sind, Tiroler, Südtiroler, Engadiner. Pinggera ist sogar ein Südtiroler Name. Aber wir neiden einander alles. Wer hat die schöneren Berge, mehr Schnee, mehr Gäste? Und vor allem: Wer hat die besseren Sportler?« Sie trug ab. »Wie kommst du überhaupt auf den Rudi?«, rief sie aus der Küche. »Ist ihm etwas passiert?«

      »Nein, seinem Onkel. Und er hat mich zum Skifahren eingeladen, mit dem Hubschrauber.«

      Sie kam mit zwei Schnäpschen wieder. »So läuft das eben. Wenn du geschickt bist, kannst du dir hier oben als Polizist bestimmt ein gutes Leben machen. Einen Hubschrauberflug kann ich dir nicht bieten, aber wenn du magst, ich habe oben ein kuscheliges Sofa. Warum sehen wir uns nicht den Kommissar-Brunetti-Film an, und danach haben wir etwas Spaß?«

      »Ich fand es schon spaßig«, versicherte Capaul. »Jetzt muss ich ins Bett.«

      Sie seufzte. »Ich kann dich wohl auch nicht mit einem Ausflug ins Cash & Carry in Samnaun locken, oder? Morgen früh?«

      »Hast du morgen nicht geöffnet?«

      »Das wäre vergebene Liebesmüh, samstags ist sowieso nur der Stammtisch besetzt, und vor dem ersten Schnee sind alle auf Trab, die einen müssen noch ernten oder mähen, die anderen bringen Jauche aus. Dazu kommt, dass ich noch die Sommerreifen draufhabe, die Winterreifen sind durch. Wer weiß, wann die Straßen wieder frei sind.«

      »Ich wollte eigentlich auf die …«, er blätterte im Blöckchen, »… auf die Padellahütte. Dort ist Kehrausparty.«

      »Na also, ich wusste doch, im Grunde bist du ein fröhlicher Gesell. Wenn das eine Einladung ist, nehme ich sie gern an. Und wenn du morgen ausgeschlafen bist, hast du ja vielleicht auch Lust, mit mir zu shoppen.«

      Aus dem erholsamen Schlaf wurde nichts. Er versuchte, im Kopf den Bericht in drei Sätzen zu formulieren, und bekam ihn nicht hin. Rainer Pinggera entdeckte Feuer in seinem Stall. Er hielt es mit einem Gartenschlauch in Schach, und die Feuerwehr war schnell vor Ort, bestand streng genommen aus nur zwei Sätzen, und ersetzte er das Komma durch einen Punkt, holperte es furchtbar. Zudem schien ihm das Ganze zu knapp. Als Rainer Pinggera den Heustall betrat, um eine defekte Toilettenbrille zu reparieren, entdeckte er, dass ein Heizofen Altpapier in Brand gesetzt hatte. Er griff zum Gartenschlauch und hielt das Feuer in Schach, bis die Feuerwehr kam. Das war ausführlicher, aber nun waren es entschieden nur zwei Sätze. In beiden Versionen schien ihm auch etwas zu fehlen, sogar mehreres: Pinggeras Mordverdacht und die Tatsache, dass er – trotzdem oder eben deshalb? – auf einen Polizeirapport verzichtete.

      Offenbar wusste er einfach noch zu wenig, um den Fall, der kein Fall war, abzuschließen. Wie immer legte er sich auf seine rechte Seite, um kurz vor dem Einschlafen auf die Linke zu wechseln, doch er hatte das Fenster einen Spalt geöffnet gelassen, und nun zog es ihm in den Nacken. Er schloss das Fenster, danach hielt ihn der Gestank wach. Im Halbschlaf war er überzeugt, der Teppich, die Matratze oder beides sonderten giftige Dämpfe ab. Umso mehr freute er sich, als ihm einfiel, dass er viel zu wenig getrunken hatte. Auf der Toilette trank er vom Hahn, und zurück in seinem Zimmer, entdeckte er ein an die Tür geschraubtes Klapptischlein. Es ließ sich zwar nur ausklappen, während die Tür geschlossen war. Doch so lange konnte er darauf seine Uhr und zwei, drei Dinge legen, die ihm wertvoll waren, wie etwa ein Kettchen aus Lotussamen aus dem kleinen Nachlass seiner Mutter. Das Zimmer gewann dadurch enorm an Wohnlichkeit.

      Als Capaul zum Frühstück kam, saß Bernhild am Stammtisch und war dabei, Aromat in den Gewürzkörbchen nachzufüllen. Ihn hatte sie ganz auf die andere Seite der Stube gesetzt. »Ich selbst bin ja ein Mensch, der beim Frühstück seine Ruhe will«, sagte sie. Dafür hatte sie ihm ein mit Tesafilm verklebtes Klarsichtmäppchen neben den Teller hingelegt. Es enthielt einen Ausschnitt aus einer Boulevardzeitung, dem Blick wohl, und zeigte ein barbusiges Seite-3-Girl. Offensichtlich war es schon durch viele Hände gegangen. Capaul warf nur einen kurzen Blick darauf, dann öffnete er eine der Gerberkäse-Ecken und strich sein Brot.

      Bernhild hatte ihm Kaffee gebracht, dann war sie dazu übergegangen, Maggi-Fläschlein aufzufüllen. Das war eine diffizile Angelegenheit, bei der sie immer wieder die Zunge vorschob und vor sich hin murrte. Ganz nebenbei bemerkte sie: »So rein körperlich habe ich mich ja seit damals kaum verändert.«

      Nun las Capaul auch die Bildlegende: Bernhild (19) ist Kellnerin aus Leidenschaft. Wo sie serviert, bleibt kein Mund trocken.

      »Hat die Zeitung dafür bezahlt?«, fragte er.

      Schweigend stand Bernhild auf, nahm seine Tasse und ließ einen zweiten Kaffee aus der Maschine, dann setzte sie sich neben ihn.

      »Wenn man so ein Bild sieht, Capaul, dann sagt man: Donnerwetter. Oder: Tolle Brüste. Oder: Mensch, da hab ich was verpasst. Oder: So was Süßes hätte ich ja auch gern mal in der Falle. Klar?«

      »Donnerwetter«, sagte er folgsam.

      »Ist das alles?«

      »Donnerwetter, damals hattest du noch lange Haare.«

      »Ich habe auch jetzt lange Haare, Dösel. Hast du überhaupt hingesehen?«

      »Tatsächlich, waren sie denn damals auch schon rot?«

      Sie nahm das Mäppchen an sich und stand kommentarlos auf. Nachdem sie die Gewürzkörbchen auf die Tische verteilt hatte, fragte sie: »Brauchst du noch was? Ich fahre dann sonst jetzt los. Ich nehme nicht an, dass du mitkommen willst.«

      »Oh doch, eigentlich schon, also zumindest, wenn du mich ans Steuer lässt. Dein Lieferwagen hat doch sicher Gangschaltung, die muss ich noch üben.«

      Ihr rostroter oder vielleicht auch nur rostiger Citroën Jumper war eine Herausforderung für sich mit seinem ausgeleierten Getriebe. Die Gänge sprangen öfters raus, und die Bremse griff nur, wenn Capaul mit voller Kraft aufs Pedal trat.

      Samnaun war ein entseeltes Dörfchen mit einer stereotypen Einkaufsmeile, in der Edelmarken mit Sonderangeboten lockten. Etwas außerhalb des Dorfs erhob sich eine große Warenhalle mit den sonderbarsten Artikeln für Hotellerie und Gastronomie, von der Hundewaschanlage bis zum Serviettenhalter in Raketenform.

      Bernhild kannte sich aus und steuerte gleich die relevanten Regale an. »Tomaten«, sagte sie etwa, und Capaul dachte: Schön, schnappen wir uns die Tomaten, doch dann öffnete sich vor ihm eine fast endlose Galerie an Dosen, Tuben und Einmachgläsern unterschiedlichster Herkunft und Qualität. Capaul lernte, den Preis von Konserven nach ihrem Einlagegewicht zu beurteilen und eingebeulte Dosen entweder zurückzustellen oder im Preis herunterzuhandeln. Er lernte, Kaffeesorten nach ihrem Duft zu beurteilen. Dazu stach Bernhild mit einer Stecknadel, die sie extra dafür am Revers mitführte, ein Löchlein ins Paket: »Guter Kaffee«, sagte Bernhild, »riecht wie Pipi auf der Haut.« Er erfuhr, dass Steinpilzsauce keine Steinpilze enthält, sondern ein Tubenextrakt