»Ich weiß. Es ist nicht möglich.«
Als Christine die Musik auf dem CD-Player abstellen wollte, bat er sie, noch zu warten, das Stück war fast zu Ende. »Lass es zu Ende gehen.«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern, wollte sie zurückhalten, wollte ihr Trost spenden. Es war eine liebevolle Geste, doch konnte Christine das nicht an sich heranlassen. Sie standen einander gegenüber. Alex war untersetzt, mittelgroß – sie war vielleicht drei Zentimeter größer als er, selbst mit bloßen Füßen, nur würde er das nie glauben. Zuerst wand sie sich in seinem Griff. »Ich muss mich beeilen. Ich weiß nicht, ob sie dort im Krankenhaus allein ist.«
»Das Taxi ist noch nicht da, warte. Hör zu.«
Es schien ihr künstlich und gezwungen zu warten, bis die Musik vorbei war. Ihre Gedanken rasten, und sie konnte die Musik nicht hören, hasste dieses Angebot von Vielfalt und Schönheit. Dann gab sie sich allmählich, unter dem beständigen Gewicht seiner Hände, der Geige, dem Klavier und dem Cello hin, die sich eilig auf das Finale zubewegten. Ihr Spiel löste etwas, was sich in Christines Innerem verkrampft hatte. Sie merkte, dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte, als wollte sie sich schützen oder fest verschließen; wenigstens hatten sie die Lampen im Zimmer nicht angeschaltet. Sie hielten sich in den Armen. Alex hatte Tränen im Gesicht, er weinte leicht. Er besaß ein Talent für Zeremonien, das sie nicht hatte, ihr waren solche Feierlichkeiten peinlich. Dieser Moment nun wirkte feierlich, und ihr Bewusstsein verstummte und hielt inne. Zum ersten Mal dachte sie direkt an Zachary, seine reale Gegebenheit. Aber das war nicht zu ertragen.
»Lass mich mitkommen ins Krankenhaus«, sagte Alex. »Ich fahre dich hin.«
Christine überlegte. »Nein, es ist besser, wenn ich allein gehe. Wenn wir erst einmal nur zu zweit sind. Ich bringe sie hierher. Du könntest das Bett für sie herrichten.«
Sie hatte sich vorgestellt, dass sie durch Krankenhausflure eilen und Lydia suchen müsse, die womöglich mit Zachs Leiche hinter geschlossenen Vorhängen saß oder in irgendein den Angehörigen jüngst Verstorbener vorbehaltenes Zimmer geführt worden war. Doch kaum war Christine durch die Glastüren des Haupteingangs getreten, stand Lydia von einem der blauen Plastikstühle vor dem Empfangstresen auf, wo sie zwischen anderen Wartenden gesessen hatte. Sie hatte auch jetzt die Ausstrahlung einer missgelaunten Königin, eine hochmütige und auffällige Erscheinung in einer himmelblauen Samtjacke mit künstlichem Leopardenfell am Kragen; als Christine auf sie zulief und sie in die Arme schloss, drehten sich die Leute um und starrten sie an. Mit ihrer üppigen Figur, den honigfarbenen Locken und der prallen, schmollenden Unterlippe wurde Lydia oft für irgendeine Berühmtheit gehalten. Sie widmete ihrem Make-up und ihrer Kleidung die gebührende Aufmerksamkeit, um diesen künstlerischen, theatralischen, sexy Look zu erzielen. Ihr blasser Teint schimmerte bläulich, wie Magermilch.
»Wo bleibst du denn? Ich warte schon eine Ewigkeit!«
»Nur eine halbe Stunde. Ich musste ein Taxi rufen.«
Christine merkte, dass sie sich vor dieser Begegnung gefürchtet hatte, weil sie dachte, der Schicksalsschlag von Zacharys Tod würde Lydia irgendwie noch dominanter machen. Jetzt schämte sie sich und empfand stechendes Mitleid, denn Lydia wirkte nur fehl am Platz und verloren. Als sie die Freundin in die Arme schloss, spürte sie, wie diese sich verkrampfte, als wäre sie verletzt; Lydias schwer beringte Hände waren kalt und starr. Von nun an würde es ihre Aufgabe sein, dachte Christine, sie zu umsorgen, sie nicht im Stich zu lassen. »Ich fasse es nicht, dass sie dich hier allein gelassen haben!«
»Ich wollte allein sein. Ich habe alle weggeschickt. Jane Ogden kann ich sowieso nicht ausstehen. Es war ihr anzusehen, dass sie es gar nicht erwarten konnte, die Geschichte überall herumzuerzählen, mit ihr im Mittelpunkt des Geschehens natürlich. Ich habe gesagt, ich wolle nur dich und Alex sehen. Wo ist Alex?«
»Er ist zu Hause und richtet ein Bett für dich her.«
Christine hatte im Taxi geweint; sie hatte sich fest vorgenommen, vor Lydia nicht zu weinen, damit es nicht aussah, als würde sie deren Leid, das natürlich vorrangig war, für sich vereinnahmen. Aber jetzt fing sie wieder an, wischte sich mit einem feuchten Papiertaschentuch aus ihrem Ärmel über das Gesicht, wohl wissend, wie hässlich und dumm sie vor all diesen fremden Leuten aussah – das Gesicht rot angelaufen, der Mund hilflos offen stehend und verzogen wie bei einem Baby. »Ich kann es nicht glauben. Es kann nicht wahr sein. Bist du dir sicher?«
»Natürlich ist es wahr. Die beschissensten Sachen sind immer wahr.«
»Lyd, wo ist Zachary? Hast du ihn gesehen? War er noch am Leben, als du angekommen bist?«
»Nein, und ich will ihn auch nicht sehen. Das ist ja nicht mehr Zachary, stimmt’s? Wozu soll das dann gut sein?«
Sie sagte das ziemlich laut, und die Leute drehten sich nach ihr um. Christine beruhigte sie, sie müsse nichts tun, was sie nicht wolle. Sie wusste, dass Lydia sich vor Zacharys Leiche fürchtete, vor dem Gedanken daran zurückschreckte wie ein scheues Tier. Und es war wirklich eine schreckliche Vorstellung, dass er irgendwo allein in diesem gespenstischen, unpersönlichen Gebäude lag, das in der Nacht erleuchtet war wie ein Schiff auf dem Meer. Auch Christine fürchtete sich vor Zacharys Leiche. Beim Gedanken daran wurde ihr schlecht vor Grauen. Doch an Lydias Stelle hätte sie die Leiche wohl doch sehen, ihrer Angst eine Gestalt geben wollen. Zumindest hätte sie sich noch mehr davor gefürchtet, dass sie es hinterher bereuen würde, wenn sie es nicht getan hätte. Das war einer der Unterschiede zwischen ihnen: Lydia verhielt sich abergläubisch und ließ sich von ihren Instinkten leiten, während Christine versuchte, mit ihren Instinkten zu verhandeln.
»Lass uns hier rausgehen«, sagte Lydia.
»Musst du nicht noch irgendwelche Papiere unterschreiben?«
Sie habe bereits alles unterschrieben. Es sei eine Obduktion angeordnet worden, sagte sie.
»Und weiß Grace es schon? Wo ist sie?«
Der Gedanke an ihre Tochter versetzte Lydia in Panik. »Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht ans Telefon. Sie ist wohl irgendwo in Glasgow unterwegs, wie das bei Studenten eben so ist. Natürlich wird sie mir die Schuld geben, du weißt ja, wie sie ihren Vater anbetet. Alles ist immer meine Schuld.«
Sie schaute Christine herausfordernd an, ob die ihre Selbstbezogenheit schockierend fand. Und Christine war wirklich schockiert: Sie war sich sicher, sie selbst hätte in so einem Fall zuerst an Isobel gedacht, hätte sie schützen wollen, hätte Isobels Verlust sogar schrecklicher gefunden als ihren eigenen. Doch zwischen Lydia und Grace hatte es in letzter Zeit Reibereien gegeben; und Lydia hatte sich schon immer halb im Scherz beklagt, sie fühle sich ausgeschlossen, weil ihr Mann und ihre Tochter so perfekt aufeinander eingespielt seien. Sie konnte sich und ihre Beziehungen nicht in einem einzigen Moment des Umbruchs neu erfinden.
»Ich dachte, vielleicht könntest du es ihr sagen«, meinte Lydia. »Du kannst so etwas besser.«
Christine wollte schon protestieren – aber du bist doch ihre Mutter –, ließ es dann aber bleiben. Wer weiß, wenn Alex etwas passiert wäre, hätte sie sich womöglich ebenso egoistisch verhalten – zum Beispiel Sandy gegenüber, Alex’ Sohn aus erster Ehe, ihr eigener Stiefsohn, den zu lieben sie sich nach Kräften bemühte. Es ist alles noch im Fluss, ermahnte sie sich. In den nächsten Stunden werden sich unsere Wahrnehmungen immer wieder rasant verändern, während wir uns auf diese neue verstümmelte Lebensform einstellen. Dabei ist es unsere ständige Pflicht, auf die von diesem Schicksalsschlag Getroffenen, auf Lydia und Grace, achtzugeben und nichts zu sagen und zu tun, was sie verletzen könnte. Dann dachte sie, aber ich bin doch auch betroffen. Wir sind alle betroffen, Alex und Isobel und ich, selbst Sandy – und die Leute in der Galerie. Ohne Zachary ist unser aller Leben in Unordnung geraten. Gerade ihn durften wir auf keinen Fall verlieren.
Auf der Rückbank des Taxis sprachen die beiden Frauen kaum ein Wort. Der Fahrer sollte nicht erfahren, was geschehen war; die Nachricht konnte noch nicht in die Welt hinaus, sie war noch in ihrem Inneren eingeschlossen, hart wie Stein. Lydia griff im Dunkeln nach