Zwei und zwei. Tessa Hadley. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tessa Hadley
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311701217
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      Tessa Hadley

      Zwei und zwei

      Roman

      Aus dem Englischen von Gertraude Krueger

      Kampa

       Für Mum und Dad

      1

      Sie hörten Musik, als das Telefon klingelte. Es war ein Sommerabend, neun Uhr. Sie waren mit dem Essen fertig, und Christine lauschte konzentriert, mit untergeschlagenen Beinen in ihrem Sessel sitzend; sie kannte das Stück, wusste aber nicht, was es war. Alex hatte es ausgesucht, er hatte sie nicht einbezogen, und jetzt wollte sie aus Trotz nicht mehr nachfragen – er genoss es zu sehr, etwas zu wissen, was sie nicht wusste. Er lag auf dem Sofa im Erkerfenster, ein offenes Buch in der Hand, in dem er nicht las, sondern das er über der Brust ausgebreitet hielt; er betrachtete den Himmel draußen. Ihre Wohnung war im ersten Stock, und das Wohnzimmerfenster ging auf eine breite, mit Platanen bestandene Straße hinaus. Vom Park schwirrte ein Pulk Sittiche herüber, und nebenan ragte das rotbraune Dunkel der Blutbuche, das letzte Licht verschluckend, in den türkisfarbenen Himmel. Eine Amsel, die als Schattenbild mit offenem Schnabel auf einem Ast saß, sang offenbar, wurde aber von der Musik übertönt.

      Es war das Festnetztelefon, das da läutete. Es riss Christine von der Musik fort; sie stand auf und schaute sich um, wo sie den Handapparat nach dem letzten Gebrauch abgelegt hatten – wahrscheinlich irgendwo hier, zwischen den Bücher- und Papierstapeln. Oder in der Küche beim Abwasch? Alex ignorierte das Läuten, ließ nur durch ein leicht gereiztes Verziehen des Gesichts erkennen, dass er es bemerkt hatte – dieses immer bewegten, ausdrucksvollen Gesichts, fremdartig, weil die Augen so dunkel waren, scharf umrissen, als wären sie gemalt. Dieser Effekt wurde immer auffälliger, je älter Alex wurde und je mehr der Glanz aus seinen Haaren schwand, die früher die Farbe von angelaufenem dunklem Gold gehabt hatten.

      Wahrscheinlich war ihre Mutter am Telefon und nicht seine – oder vielleicht ihre Tochter Isobel, und mit der wollte Christine gern sprechen. Sie gab die Suche nach dem Handapparat auf, fischte gar nicht erst mit den nackten Füßen nach ihren Espadrilles und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend – das konnte sie noch –, die Treppe hoch, zum Nebenanschluss im Schlafzimmer unter dem Dach. Unten spielte die Musik ohne sie weiter, Schubert oder so, und als Christine sich auf den Bettrand fallen ließ und sich atemlos meldete, nahm sie das liebliche Perlen einer abfallenden Tonfolge wahr. Dieses Zimmer, das sie sich unter dem spitzwinkligen Dach eingerichtet hatten, bewahrte die ganze Hitze des Tages und war von Gerüchen erfüllt – Verkehrsabgase, Geißblatt von unten aus dem Garten, Teppichstaub, Bücher, ihr Parfüm und ihre Gesichtscreme, die leichte Körpermuffigkeit der Bettlaken. Die Drucke, Fotos und Zeichnungen an den Wänden – manche davon ihre eigenen Werke – lagen im Schatten, wie ausgelöscht, und nur ihre gerahmten Formen hoben sich von der weißen Farbe ab. Durch das offene Dachfenster konnte sie jetzt die Amsel hören.

      Lieblich.

      »Ja?«

      Am anderen Ende der Leitung war ein Wirrwarr von Geräuschen, als käme der Anruf von einem öffentlichen Ort wie einem Bahnhof, wo man nur mühsam sprechen konnte. Jemand verlangte eindringlich nach ihr. »Kannst du mich hören?«

      »Bist du das, Lydia?« Christine merkte, dass sie freundlich lächelte, entgegenkommend, obwohl sie niemand sehen konnte, mit zusammengedrückten Knien auf dem niedrigen Bett sitzend. Lydia hatte wohl getrunken, was durchaus schon vorgekommen war. Sie sprach schleppend, undeutlich, als wäre in ihrer Stimme etwas zu Bruch gegangen. »Was gibt’s?«

      »Ich bin im Krankenhaus«, schrie Lydia. »Es ist etwas passiert.«

      »Was ist passiert?«

      »Mit Zachary. Es hat ihn bei der Arbeit erwischt.«

      Das Zimmer erbebte, und seine Stille richtete sich neu aus, ein paar Staubpartikel kamen von der Decke herabgetrudelt. Das hatte es noch nie gegeben, dass Zachary etwas zugestoßen war. Er stand wie ein Fels in der Brandung, er wurde nie krank. Nein, er stand nicht unbewegt wie ein Fels: Er war ein weit ausschreitender, fröhlicher Riese, berstend vor Energie. Christine sagte, sie werde sofort ein Taxi rufen, in spätestens einer halben Stunde sei sie bei Lydia. »Welches Krankenhaus? Auf welche Station soll ich kommen? Was ist mit ihm?«

      »Es ist das Herz.«

      »Ein Herzinfarkt?«

      »Sie wissen es nicht genau«, sagte Lydia. »Aber sie glauben, es ist das Herz. Anscheinend war er eben noch in der Galerie im Büro, gesund und munter, und hat mit Jane Ogden über die neue Ausstellung gesprochen, und auf einmal ist er umgekippt. Ist auf den Tisch aufgeschlagen, alles ist durcheinandergeflogen. Vielleicht ist er mit dem Kopf aufgeprallt, als er auf den Tisch aufgeschlagen ist.«

      »Und was geschieht jetzt? Wird er operiert?«

      »Warum hörst du nicht zu, Christine? Ich sage doch, er ist tot.«

      Auf dem Weg zu Alex blieb Christine vor der offenen Tür zu ihrem Atelier stehen, wo sich ihre Arbeit in Umrissen abzeichnete, die im Dämmerlicht getreulich auf sie warteten: Tuscheflaschen, zerquetschte Farbtuben, der chinesische Porzellantopf mit ihren Pinseln und Stiften, die Pinnwand mit Ansichtskarten und aus Zeitschriften ausgerissenen Bildern, Federn, dreckige Lappen, ausgebleichte Plastikschnipsel. Cremefarbene Bögen von dickem Papier lagen auf dem Schreibtisch ausgebreitet und warteten darauf, dass sie ihre Spuren darauf hinterließ; grundierte Leinwände waren an den Wänden aufgereiht, halbfertige Arbeiten standen auf der Staffelei oder waren auf Stellwände gepinnt. Jeden Morgen ging sie zu diesem Schauplatz ihrer Mühen wie zu einem religiösen Fest, vollführte kleine Rituale, die sie keinem Menschen gegenüber je erwähnt hatte. Inzwischen war es ihr größter Wunsch, dort zu sein und zu arbeiten – an der Staffelei zu stehen oder Kopf und Schultern konzentriert über das Papier auf dem Tisch zu beugen, in ihre Nachbildung von Formen, ihre Erfindungen vertieft. Jetzt aber löste der Gedanke an diese Arbeit – den Fixpunkt, der ihren Kurs bestimmte – Übelkeit in ihr aus. Sie kam ihr verlogen vor, das klebrige Produkt ihrer eigenen Eitelkeit. Rasch schloss sie die Tür davor. Dann machte sie sie wieder auf – im Schloss steckte ein Schlüssel, den sie manchmal umdrehte, wenn sie nicht gestört werden wollte. Sie zog ihn heraus und schloss das Atelier von außen ab, steckte den Schlüssel in ihre Jeanstasche.

      Im Wohnzimmer spielte immer noch die Musik.

      »War das deine Mutter?«, fragte Alex.

      Ihr Herz pochte mit dumpfen Schlägen in ihrer Brust, sie wusste nicht, ob sie sprechen konnte. Es war furchtbar, mit dieser Nachricht sein Glück zerstören zu müssen, während er auf dem Sofa lag, an Kissen gelehnt, unbesorgt – oder nicht besorgter als sonst – und sie über ihm stand. »Es war Lydia.«

      »Was wollte sie denn?«

      »Alex, ich muss dir etwas sagen. Zachary hatte einen Herzinfarkt. Zumindest klingt es, als wäre es ein Herzinfarkt gewesen.«

      »Nein.«

      »Er ist tot.«

      Einen Moment lang setzte Alex sich seiner Frau in seinem nackten Entsetzen aus, scharf aus dem leuchtenden Rot der Kissen hervortretend. »O nein, du machst Witze. Nein.«

      Gewöhnlich schien er vollkommen in sich zu ruhen und durch nichts zu erschüttern zu sein, mit seiner federnden geballten Energie und dem kampflustigen spitzen Kinn, der wohlgeformte Kopf immer wachsam und sinnlich wie ein Cäsarenhaupt.

      »Sie hat vom Krankenhaus aus angerufen, vom University College Hospital. Ich fahre jetzt zu ihr. Ich habe ein Taxi gerufen.«

      Sein Buch fiel zu Boden, und er erhob sich in dem dunkel werdenden Zimmer. »Das kann nicht wahr sein. Was ist passiert?«

      »Er war eben noch an seinem Schreibtisch in der Galerie und hat mit Jane Ogden gesprochen, gesund und munter, und im nächsten Moment ist er umgekippt, vielleicht mit dem Kopf aufgeschlagen, alles ist durchein- andergeflogen. Hannah hat versucht, ihn zu reanimieren, die Sanitäter haben alles Mögliche versucht. Als sie im Krankenhaus ankamen, war er schon tot. Jane musste Lydia anrufen, sie war unterwegs, einkaufen.«

      »Wann war das?«

      Christine wusste es nicht genau, irgendwann am späten Nachmittag