Abseits. Thorsten Fiedler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Fiedler
Издательство: Bookwire
Серия: Offenbach-Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947612970
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konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch.

      Der Chemielehrer war zum Glück deutlich aufgeschlossener als der Herr Rektor. „Steffi ist heute nicht zum Unterricht erschienen. Das kam allerdings schon häufiger vor. Die junge Dame hat zwar vielfältige Interessen, Chemie gehört jedoch sicher nicht dazu.“

      Im Sekretariat erhielten sie ohne Umschweife die Adresse der Schülerin. Steffi Gerber wohnte nicht weit von der Schule auf dem Gelände des alten Schlachthofs, eines der schönsten Gebäude, die Offenbach zu bieten hatte. Schon von Weitem konnten sie das Wahrzeichen, den ehemaligen Uhr- und Wasserturm, erkennen. Hessberger war immer wieder begeistert, wenn er vor den imposanten Backsteinfassaden stand. Er hätte sich sehr gut vorstellen können, in diesem Areal zu wohnen, doch die Mietpreise waren ihm einfach zu hoch.

      Sie klingelten mehrfach, doch niemand schien zu Hause zu sein. So machten sie sich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg ins Polizeipräsidium Südosthessen.

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      Rüdiger Salzmann erwartete sie sehnsüchtig, denn im Präsidium ging es drunter und drüber. Die Telefone klingelten in einem fort, und das bei einer äußerst dünnen Personaldecke. Durch einen Serienkiller waren die Mitarbeiter von Hessbergers Abteilung deutlich dezimiert worden, das machte sich jetzt bemerkbar. Zum Glück hatte ihnen die obere Etage für den nächsten Tag einen neuen Kollegen zugesagt. Auch ein neuer Gerichtsmediziner sollte im Laufe der kommenden Wochen seinen Dienst antreten.

      Im Besprechungsraum fasste Rüdiger den Status quo des vorliegenden Falls zusammen.

      „Klaus Zenker, Lehrer an der Albert-Schweitzer-Schule, wurde anonym beschuldigt, seine Schülerinnen sexuell zu belästigen und zu stalken. Bei der Vernehmung hat er uns glaubhaft versichert, diese Aussage entbehre jeglicher Grundlage. Und ganz ehrlich, ich hab’s ihm abgekauft. Nachdem er seine Aussage gemacht hatte, ließen wir ihn laufen, es gab keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Ein paar Stunden später gab es einen weiteren anonymen Hinweis, im Haus des Lehrers befände sich umfangreiches Beweismaterial. Das Haus habt ihr dann leer vorgefunden. Bis auf den Keller, der mit einer Alarmanlage gesichert war. Dort fand sich ein Laptop mit Bildern der verschwundenen Schülerin. Es handelte sich dabei um professionell aufgenommene Erotik- beziehungsweise Nacktaufnahmen. Damit ist schon mal klar, dass der anonyme Hinweisgeber recht hatte und Klaus Zenker uns angelogen hat. Jetzt sind beide verschwunden, Schülerin und Lehrer.“

      „Danke für die treffende Zusammenfassung, Rüdiger“, sagte Hessberger. „Sobald der neue Kollege eintrifft, werden wir uns aufteilen. Zuerst befragen wir die Nachbarn von Steffi Gerber und Klaus Zenker. Sollten wir ihn in den nächsten zwei Tagen nicht finden, schreiben wir ihn zur Fahndung aus. Obwohl ich das nur ungern tue, denn wenn wir offiziell gegen ihn vorgehen und am Ende ist er vielleicht doch nicht schuldig, wird er den Makel nie wieder los.“

       ZWEI

       Freitag, 24.01.2020, 5.30 Uhr

      Die Luft im Raum war stickig und abgestanden. An der gegenüberliegenden Wand zeichnete sich sein Schatten ab, der sich unruhig hin- und herbewegte. Immer wieder murmelte er vor sich hin: „Selbst schuld, warum konnten sie auch nicht aufhören?“ Sie würden schon sehen, was sie davon hatten …

       Freitag, 24.01.2020, Leonhard-Eißnert-Park

      Als Adi den Telefonhörer auflegte, schaute er Sina mit betrübten Augen an. „Es gibt Arbeit. Wir müssen zu einem neuen Tatort.“

      Eine Viertelstunde später kamen sie im Leonhard-Eißnert-Park an. Adi verschaffte sich erst einmal einen groben Überblick. Die Wege des beliebten Kletter- und Freizeitparks waren vorschriftsmäßig mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt. Alles wirkte ein wenig trist, die Bäume waren kahl, das welke Gras grau, die Luft dunstig. Die großen Wasserfontänen, im Sommer eine Attraktion des Geländes, waren abgestellt. Der Park und das Verkehrserziehungsgelände, auf dem Hessberger vor vielen Jahren seinen Fahrrad-Führerschein gemacht hatte, waren menschenleer, nur die Kollegen der Spurensicherung zeigten Fleiß bei der Arbeit.

      „Na Jungs, was haben wir hier?“

      „Ein Spaziergänger hat die Polizei benachrichtigt, weil eine Joggerin bewusstlos im Wald lag. Leider konnten wir sie nicht vernehmen, denn der herbeigerufene Rettungswagen hat sie sofort mit ins Krankenhaus genommen. Aber deswegen haben wir euch nicht gerufen. Zuerst dachten wir tatsächlich, es handelt sich nur um eine verunglückte Person, aber dann haben wir das hier gesehen.“ Er zeigte auf eine riesige Eiche. Einen halben Meter über dem Boden baumelte ein männlicher Körper.

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      Die Kommissare fuhren ins Ketteler-Krankenhaus, um die Aussage der Joggerin aufzunehmen. Adi wusste aus langjähriger Erfahrung, dass es wichtig war, die Zeugen so schnell wie möglich zu vernehmen.

      „Ich fühle mich total unwohl in Krankenhäusern. In der Luft liegt immer ein Hauch von Desinfektionsmitteln, diesen Geruch hasse ich wie die Pest. Findest du nicht auch, dass Krankenhäuser das Gefühl von Siechtum und Tod verströmen?“ Ohne eine Antwort von Sina abzuwarten, ging Adi weiter. Sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock und ließen sich dort von einer Schwester das richtige Zimmer zeigen. Der Raum, den sie betraten, erwies sich als großzügiges, lichterfülltes Zimmer.

      Die Frau lag direkt am Fenster. In ihrem Gesicht spiegelte sich Angst, ja Panik wider, zumindest war das Adis Eindruck. Die verlaufene Schminke verlieh ihr einen maskenhaften Ausdruck und unter der großen Bettdecke wirkte sie seltsam verloren.

      „Wie geht es Ihnen?“, fragte er ohne Umschweife. „Sind Sie in der Lage, uns zu erzählen, was genau passiert ist?“

      Wie geistesabwesend begann sie zu erzählen. Es schien, als spiele sie die Szene nach, denn sie redete, als würde sich das Ganze gerade ereignen.

      „Ich jogge durch den Park, wie jeden Morgen. Ich laufe am Verkehrserziehungsgelände vorbei. Es ist ganz friedlich und still, weil es noch so früh ist. Der Mond leuchtet nur schwach durch die großen Laubbäume. Der Park liegt in einem tiefen Schlaf. Es ist neblig und kein Geräusch ist zu hören. Doch da ist plötzlich was. Ein leises Knarren, kaum hörbar, das mich stört und nicht in diesen Morgen passt. Aber ich bin in meine Gedanken vertieft. Mein Freund und ich wollen bald heiraten. Was da alles zu erledigen ist, das geht mir nicht aus dem Kopf. Auch beim Joggen. Ganz plötzlich merke ich, dass was nicht stimmt, aber da ist es schon zu spät. Da hängt jemand und ich renne voll in ihn hinein. Gegen eine Leiche! So ein grauenvoller Anblick! Ich fange an zu zittern. Am ganzen Körper. Will schreien. Aber … aber es kommt kein Ton über meine Lippen.“

      Kaum hatte sie ihre Erzählung beendet, brach sie in Tränen aus. Der herbeigeeilte Arzt versuchte, sie zu beruhigen, und bat die Beamten zu gehen. Sie verabschiedeten sich, denn mehr würden sie im Augenblick wahrscheinlich sowieso nicht erfahren. Warum sollten sie die Frau weiter quälen?

       Polizeipräsidium Südosthessen

      Als die beiden das Präsidium betraten, kam gerade Rüdiger Salzmann um die Ecke. „Und? Habt ihr schon eine Vermutung, was passiert sein könnte?“

      „Das nicht, aber ich habe eine Überraschung für dich: Bei dem Toten im Park handelt es sich um den verschwundenen Klaus Zenker, unseren verdächtigen Lehrer“, unterrichtete Adi den Kollegen. „Die Spusi hat bei dem Toten seine Brieftasche mit seinem Pass gefunden. Deshalb haben wir ihn auch nicht zu Hause angetroffen. Die arme Joggerin ist direkt in ihn reingerannt und hat dabei den Schock ihres Lebens bekommen. Jetzt warten wir auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin, ob es ein Suizid war oder ob eventuell Fremdverschulden vorliegt.“

      Rüdiger nickte beifällig. „Der Lehrer ist schuldig und jetzt hat er aus Angst vor der Strafe die Konsequenzen