Niklas Rådström
Der Librettist
Roman
Aus dem Schwedischen von
Maike Dörries und Frank Zuber
Saga
Für Thomas
1.
In letzter Zeit muss ich immer öfter an den Tod des armen Amadeo denken. Wie oft wurde ich über meinen Freund und die Umstände seines Hinscheidens ausgefragt, und nun, da mein eigenes Ende unweigerlich näher rückt, verdichten sich diese Fragen zu einem Funkenregen, der in mir die Lust entfacht, noch einmal meine Lebensgeschichte zu erzählen. Dass ich so oft an Amadeo denke, liegt wohl an der launenhaften Ungerechtigkeit des Schicksals. Manche Menschen lässt es jung sterben wie Pflanzen, die mit der Wurzel ausgerissen werden, bevor sie ihre volle Blüte erreichen oder Frucht tragen. Mein hohes Alter dagegen hat mich mit dem Tod versöhnt; er ist mir nicht mehr unbegreiflich. Vielleicht wird auch der Leser dieser Zeilen besser verstehen, was der Tod von uns will, vielleicht wird er sogar Amadeos trauriges Ende verstehen. Der Tod ist die letzte Konsequenz jener Erniedrigung, der das Alter uns aussetzt, außer er nimmt eine Abkürzung und kommt uns entgegen, wie es bei meinem Freund und vielen anderen, die mir nahestanden, der Fall war. Ich selbst bin nun so alt, dass ich mich daran gewöhnt habe, den Tod auf den Fersen zu haben. Er ruft mir höhnische Worte hinterher über die Krämpfe, die Unbeholfenheit und Verwirrung, mit denen das Alter mich ausstattet wie ein böswilliger Theaterdirektor, der seinen Schauspielern groteske Masken aufsetzt, um Zuschauer in eine hoffnungslos misslungene Aufführung zu locken. Manchmal habe ich das Gefühl, wieder zum Säugling geworden zu sein; mein Mund ist weich und zahnlos, die Lippen eingefallen, meine Hände zittern und meine Beine sind so schwach, dass sie mich kaum noch tragen. So geht die Zeit mit uns um – die Musik behandelt sie liebevoller.
Manch einer mag sich fragen, warum Amadeo so jung gestorben ist, warum er in der Blüte seines Lebens aus unserer Mitte gerissen wurde. Man hat mich gefragt, ob er bei dem neuen Kaiser in Ungnade gefallen sei und als störende Position willkürlich aus dem Register gestrichen wurde. Der eine oder andere hat den Verdacht geäußert, dass er ums Leben gebracht wurde, weil er mit Zweiflern und Freimaurern, mit Landstreichern und Gaunern Umgang pflegte, was seine Gesellschaft in jenen Kreisen unmöglich machte, die eine feste Ordnung verlangen. Man deutete mir gegenüber sogar an, dass Antonio Salieri, für den meine Feder ebenfalls Verse komponiert hat, ihn aus purem Neid vergiftet oder sonst wie ermordet haben sollte. Zwar war der gute Salieri bisweilen ein neidischer und herrschsüchtiger Intrigant, aber dass er so boshafte und destruktive Impulse in sich trug, mag ich nicht glauben. Er war sich natürlich bewusst, dass Mozarts Talent das seine in den Schatten stellte, das konnte schließlich jeder sehen! Der Salieri, den ich kannte, war vielleicht kein Sinnbild der Bescheidenheit, aber es war immer sein größtes Streben, der Musik nahe zu sein. Na ja, wohl auch der Macht, ein Wunsch, der seine musikalischen Ambitionen bisweilen überschattete. Aber ich habe die Tränen in seinen Augen gesehen, wenn er Amadeos Musik lauschte, seine unverhohlene Freude über gut getroffene Passagen einer Partitur, seine Verzückung, wenn Amadeo eine Improvisation auf dem Klavier spielte. Aber habe ich je gesehen, dass er die Fäuste vor Neid ballte oder das Gesicht zu einer missgünstigen Grimasse verzog? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich dafür blind. Mag sein, dass Amadeo durch die Hand eines Meuchelmörders starb, aber bislang hat niemand laut ausgesprochen, wer sich hinter der bleichen Maske verborgen haben soll. Meine Meinung in dieser Frage werde ich zum angemessenen Zeitpunkt äußern.
Ich habe bereits Instruktionen erteilt, welche Klänge mich zur letzten Ruhe geleiten sollen. Manche meinen, das könne nur ein Stück »meines Freundes Mozart« sein, aber das habe ich mir verbeten. Bei meiner Beerdigung soll Gregorio Allegris Miserere gesungen werden. Darin glitzern die Töne wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser, wenn man an einem Frühlingstag von Venedig aus, wo ich in meiner Jugend viele glückliche Tage verbrachte, zum Lido hinüberschaut. Sie schimmern darin wie das Herbstlaub in den Alleen des Praters, in der Stadt, in der ich einige meiner besten Jahre verlebte. Und sie funkeln wie Raureif auf dem Gras an einem Wintermorgen in den Parks von London, wo ich die ersten Jahre mit der Liebe meines Lebens lebte. Diese Töne sind wie der reinste Kristall, eingefasst in strahlendes Silber. Andere Kristalle verbleichen daneben, anderes Silber wird unweigerlich schwarz, aber diese Töne leuchten für immer klar.
Vielleicht hätte ich das Stück ohne Amadeo nie kennengelernt. Ich erinnere mich, wie verzückt und ergriffen ich war, wie sich das Herz aus meiner Brust befreite und unter dem Kirchengewölbe zu schweben schien. Der hohe Klang! Die aufsteigenden Stimmen! Ton um Ton um Ton zwischen den Säulen der Kathedrale. Damals waren diese Töne Privateigentum des Papstes und wurden ausschließlich in der Passionswoche von Sängern gesungen, denen es bei Strafe der Exkommunikation verboten war, das Werk außerhalb des päpstlichen Herrschaftsbereiches aufzuführen. Und dann kam Amadeo, der »mein Freund Mozart« werden sollte, auf der italienischen Reise mit seinem Vater nach Rom und schrieb das Werk aus dem Gedächtnis auf, nachdem er es in der Matutine gehört hatte. Er saß unter Michelangelos Fresken zwischen ein paar Kardinälen, die ihn für einen bayerischen Prinzen hielten, und noch am selben Abend brachte er die neun mäandernden Stimmen für Doppelchor im Gästezimmer des päpstlichen Kuriers, bei dem sie logierten, zu Papier. Als sie am Karfreitag erneut die Mette in der Sixtinischen Kapelle besuchten, um Allegris Meisterwerk noch einmal zu hören, hatte Amadeo das Notenblatt im Hut versteckt, um einzelne Fehler zu korrigieren. Das nenne ich Konterbande! Töne, die allein dem Papst vorbehalten waren, in der Phantasie und Schöpferkraft eines vierzehnjährigen Jünglings aus dem Allerheiligsten geschmuggelt und aus reiner Lust und Neugier im Kerzenschein einer Gästeklause auf Notenlinien gemalt! Amadeos Großtat erweckte eine solche Bewunderung bei meinen Landsleuten, dass sie jegliches Gerede über Exkommunikation vergaßen.
Nun glaube ich nicht, dass der Klang, den man an meiner Bahre hören wird, sich in irgendeiner Weise mit dem messen kann, was ich bei meiner ersten Begegnung mit dem Werk erlebte. Der Chor, den man hier zusammenkratzen wird, ist wohl eher für Trinklieder oder frivole Serenaden in einem verrauchten Saloon geeignet, fürchte ich. Ich habe versucht, meinen neuen Landsleuten den wahren Gesang ans Herz zu legen, der aus dem tiefsten Innern des Menschen aufsteigt wie eine Quelle aus der Erde, klar, erfrischend und perlend. Hat man wie ich hören dürfen, wie sich das erste Instrument unseres Herrn, die menschliche Stimme, aus Liebe zur Schöpfung und zum Gesang kunstvoll und inniglich erhebt, so hat man ein Stück Himmelreich erlebt. Diejenigen, die Allegris Meisterwerk singen werden, wenn ich zur letzten Ruhe gebettet werde, können dies unmöglich erreichen. Aber ich muss ihnen ja nicht zuhören im Dunkel des Sarges. Ich stelle mir vor, ich liege dort wie eine Skalenübung oder eine melodische Figur aus einer Sonate, die im Klangkörper eines nach dem Konzert abgelegten Instrumentes verweilt. Vielleicht eine Violine oder ein Violoncello. So klingt mein Dasein langsam aus und wird eins mit dem Holz des Instrumentes. Wenn sich dann die Sänger des zusammengewürfelten Chores im Tonlabyrinth des Miserere verirren, zehren bereits die Mächte der Verwesung an meinen Körper, und wenn mein Gott mir gnädig ist, worauf ich trotz meines abenteuerlichen Lebens vertraue, höre ich dann schon andere, engelgleiche Stimmen.
Vor einigen Jahren hat mich meine geliebte Nancy verlassen. Ein Schnupfen wuchs sich zu einem Husten aus, der sich in ihrer Lunge festsetzte, und nach nur sechs Tagen wurde mir die Freude meines Lebens entrissen, mein Engel, meine Geliebte, Heim und Hirtin, Mutter meiner Kinder und Quelle meines Glücks. Ihr schweißnasser, zitternder Körper im Bett, ihre heißen Hände wie die eines kleinen Mädchens in meinen alten, ihr bleiches Antlitz mit geschlossenen Lidern, hinter denen die Augäpfel im Fieberwahn zuckten. Ich sehe sie noch vor mir, die schweißfeuchten Haarsträhnen auf ihrer Stirn und ihre glasigen Augen, die, als sie sie endlich aufschlug, an mir vorbeistarrten, als wartete hinter meinem Rücken bereits ein anderer Gast auf sie. Ihr Atem ging schneller, wie beim Liebesakt oder als wolle sie eine Arie aus einem modernen Oratorium singen, die auf unendlich kleinen Notenwerten aufbaut. Kürzer und kürzer wurden die Atemzüge, wie vor Viertelnoten, Achtelnoten, Sechzehntelnoten, bis die große, dunkle Generalpause einsetzte und nichts als Schweigen den Raum erfüllte.
Meine Nancy starb in ihrem zweiundsechzigsten Jahr, und die Trauer, die sie hinterließ, trieb ein längeres Poem und achtzehn Sonette