Diese Ruhe beginnt damit, dass wir vor Gott stehen, wie wir sind. Dass wir ihm unsere Wünsche und Ambitionen bringen, die Menschen, die wir lieben, und die, die wir hassen, unsere Zwänge und unsere Unmöglichkeiten, unsere Schmerzen und Wunden. Genau das ist die tägliche Übung, durch die wir im Glauben wachsen. Zu Gott zu sagen: „Hier bin ich – genauso, wie ich bin. Dies sind meine Wünsche, dies meine Gedanken – heute. Zeig mir, wie ich dir ähnlicher werden kann.“
Gottes Gnade ist unablässig in uns am Werk. Wir können lernen, uns dieser Gnade zu überlassen und mit ihr zusammenzuarbeiten.
Das Gute an der Guten Nachricht ist die Botschaft: Wir müssen nicht Gefangene der Dunkelheit und der Schwächen bleiben, die uns anhaften. Wachstum und Veränderung sind möglich.
GARY L. THOMAS
KAPITEL 3
Der Geschmack der Freiheit
Leider haben allzu viele Christen offenbar nicht verstanden, dass Gnade nicht das Gegenteil von Bemühen ist, sondern von Verdienst.
DALLAS WILLARD
Eine Frömmigkeit, die nicht aus unserem innersten Herzen kommt, ist nichts als eine Maske.
JEANNE-MARIE GUYON
STELLEN SIE SICH VOR, Gott würde Ihnen folgendes Angebot machen: „Ich gebe dir die unternehmerischen Fähigkeiten eines Bill Gates – du kannst das Industrieimperium des nächsten Jahrzehnts begründen. Interessiert?“
Oder, wenn Sie eher der kulturelle Typ sind: „Ich gebe dir eine Stimme wie Pavarotti, ein malerisches Talent wie Rembrandt, schriftstellerisches Genie wie Goethe. Was sagst du?“
Man könnte sich den ganzen Tag mit solchen Träumen beschäftigen. Was Gott uns tatsächlich anbietet, ist allerdings noch weitaus großartiger. Gott sagt: „Du kannst mein Leben in dir erfahren.“
Gott bietet uns etwas an, was alle menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Paulus schreibt: „Wir haben den Geist Christi empfangen“ (1. Korinther 2,16).
Überlegen Sie einmal, was das bedeutet. Als Christen haben wir den Geist Jesu – seine Gotteserkenntnis, seine Herzenshaltung.
Das ist ein unglaubliches Angebot. Es ist atemberaubend. Was uns hier gesagt wird, ist: Wir können werden wie er. Nach einem solchen Angebot – kann man sich da noch mit weniger zufrieden geben?
Die göttliche Natur
Petrus hatte ein Talent dafür, die Dinge zu vermasseln. Deshalb sehen wir ihn gern als den etwas begriffsstutzigen Tollpatsch, der stets aus Impulsivität ins Fettnäpfchen trat und es einfach nicht raffte. Wenn wir uns aber einmal mit dem Petrus der Petrusbriefe beschäftigen würden, wären wir vermutlich überrascht und könnten einen tiefen Einblick in die Möglichkeiten geistlichen Wachstums gewinnen. Petrus ist nämlich im Glauben gewachsen und erreichte ein Maß an Einsicht und Erkenntnis, das nur wenigen zuteil wird.
Der zweite Petrusbrief ist ein meisterhafter Aufruf zu einem solchen Glaubenswachstum. Er beginnt mit der Zusage: „Gott hat uns alles geschenkt, was wir brauchen, um zu leben, wie es ihm gefällt“ (2. Petrus 1,3). Wir haben alle Voraussetzungen dafür, dem Vorbild Jesus ähnlich zu werden. Alle!
Zu schön, um wahr zu sein? Petrus geht noch weiter. Gott hat uns, wie Luther übersetzt, „die teuren und allergrößten Verheißungen geschenkt“, damit wir „Anteil bekommen an der göttlichen Natur“ (Vers 4).
„Anteil bekommen an der göttlichen Natur“! Was hält uns zurück?
Missverständnisse
Was uns zurückhält, sind oft genug Missverständnisse. Es gibt einige Holzwege, wenn es um die Frage nach echter und dauerhafter Veränderung unserer Persönlichkeit und um die Praxis des Glaubens geht.
Ein erster Holzweg ist der rein evangelistische Ansatz. Dieser Ansatz geht davon aus, dass wir gerettet werden, damit wir von nun an auf dem Weg des Glaubens bleiben und andere ebenfalls für diesen Weg gewinnen. Wir sollten möglichst eine Reihe von Bibelstellen kennen, mit der wir jede Bastion des Unglaubens, auf die wir etwa treffen könnten, zerschmettern können. Nun ist es sicher eine gute Sache, anderen vom Glauben zu erzählen; aber es gibt eine Weise, evangelistisch zu sein, die das Teilhaben an der göttlichen Natur auf evangelistische Aktivitäten beschränkt.
Dann gibt es den Holzweg „Ich werde ein Heiliger“. Hier geht man davon aus, dass Gott zufrieden gestellt ist, wenn es mir gelingt, einen Zustand sündloser Perfektion zu erreichen. Jede Sünde ist ein Rückschritt; das Leben dreht sich nicht darum, die Fülle des von Gott geschenkten Lebens zu erfahren, sondern darum, Sünden zu vermeiden. Dieser Weg ist ein Weg der Selbstgerechtigkeit, und viele, die ihn gehen, mussten erleben, dass sie sich krankhaft nur noch mit sich selbst beschäftigen und am Ende unglücklich sind.
Heute ist der Holzweg des Aktivismus recht populär. Seine Vertreter leben nach dem Motto: „Wenn ich bestimmte Anteile von meinem Geld und meiner Zeit und meiner Kraft für Gott einsetze, dann hat Gott Freude an meinem Leben – und ich bin hoffentlich zu beschäftigt, um selbstsüchtig zu werden.“ Dieser Versuch führt oft zu Stress, Schuldgefühlen und zwanghaftem Verhalten. Es ist schwer, auf diesem Weg die Ruhe zu finden, die Jesus verspricht, und die Ähnlichkeit mit Jesus, die aus einem Zur-Ruhe-Kommen der Seele erwächst.
Dann gibt es noch den Holzweg des Pessimismus. Wer ihn geht, hält den Menschen für ein durch und durch verdorbenes Geschöpf, das nie und nimmer seinen sündhaften Zustand überwinden kann. Einseitig betont man hier das Gefallensein des Menschen und verschiebt eine Veränderung durch Christus in ein fernes Jenseits.
Und dann gibt es da noch den Holzweg der wunderbaren augenblicklichen Verwandlung. Auf ihm befinden sich Christen, die darauf warten, dass sie plötzlich ein Blitz vom Himmel trifft und auf wunderbare Weise all ihre Schwächen in geistliche Qualitäten verwandelt.
Jeder dieser Holzwege enthält ein Körnchen Wahrheit. Es ist wichtig, anderen vom Glauben zu erzählen. Natürlich sollten wir die Sünde meiden. Der Glaube soll sich selbstverständlich im Einsatz für andere erweisen. Wir können Gottes Macht erfahren, die alle menschlichen Möglichkeiten übersteigt.
Aber jeder dieser Wege irrt, weil er einen einzelnen Aspekt der Wahrheit verabsolutiert. Und das Problem all dieser Ansätze liegt darin, dass sie sich vor allem um die Frage drehen, wie wir uns das Wohlgefallen Gottes sichern oder beweisen können. All diese Wege sind Lichtjahre entfernt von dem Leben, das Jesus uns vorgelebt hat: ein volles, lebendiges Leben mit einem breiten Spektrum an Grundhaltungen, Entscheidungen und Motivationen.
Wer muss es tun – Gott oder ich?
Das Neue Testament präsentiert uns keine einfache Formel dafür, wie das neue Leben sich in uns durchsetzt. Bei Paulus finden wir Sätze zu diesem Thema, die zunächst völlig widersprüchlich klingen.
„Arbeitet mit Furcht und Zittern an eurer Rettung. Und doch ist es Gott allein, der beides in euch bewirkt: Er schenkt euch den Willen und die Kraft, ihn auch so auszuführen, wie es ihm gefällt“ (Philipper 2,12.13).
Was denn nun? Wirkt Gott oder müssen wir uns anstrengen?
Was Paulus hier beschreibt, sind zwei Seiten derselben Wirklichkeit. Und sie schließen einander nicht aus. Sie ergänzen einander. Die geringe Kraft