KAPITEL 1
Auf dem Weg
„Das christliche Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“
MARTIN LUTHER
DIE BEKEHRUNG IST NUR der Anfang des christlichen Lebens. Die meisten von uns haben wohl naiv gehofft, dass sich in den Tagen und Wochen direkt nach diesem Glaubensschritt eine große Umwandlung ereignen würde. Aber wir haben schnell entdeckt, dass sofortige Veränderungen ausblieben, oder dass sie sich zwar kurz zeigten, uns aber ebenso schnell wieder entglitten.
Die Wahrheit ist: Erneuerung ist ein Prozess. Unsere Seele wird gründlich umgegraben und mit etwas Neuem angefüllt, bis auf dem Gelände unseres früheren Lebens ein gänzlich neues Leben errichtet ist. Wir brauchen diesen Prozess. Wir brauchen es, dass Gott uns – Menschen, die sich festgefahren haben in alten Gewohnheiten, die gefangen sind im lebendig Tot sein der Langeweile oder der Bedeutungslosigkeit, die besessen sind von ihren Besitztümern – dass er uns nimmt und uns durch ein langes Wunder der geistlichen Umgestaltung befreit. Dass er uns erlöst von uns selbst und unserer Selbstbezogenheit. Wir brauchen es, dass er die Aspekte unseres Charakters, an denen wir uns wund reiben, ausgräbt und sie durch eine wohltuende Lebendigkeit ersetzt, dass er letztendlich eine neue Persönlichkeit in uns schafft – das Leben Jesu in uns, das uns verheißen ist.
Gott hat uns geschaffen, damit wir sein Bild tragen. Jeder Mensch spiegelt einen besonderen Aspekt von Gottes ureigenem Wesen wider. Und Gott brennt darauf, uns von uns selbst zu erlösen und neue Menschen aus uns zu machen. C. S. Lewis lässt seinen Fachmann für Verführungskünste Screwtape in Dienstanweisung für einen Unterteufel feststellen: „Wenn [Gott] davon redet, dass seine Geschöpfe sich selbst verlieren sollen, dann meint er damit nur, dass sie das Geschrei ihres Eigenwillens lassen sollen. Haben sie das einmal getan, gibt er ihnen tatsächlich ihre ganze Persönlichkeit zurück und verkündet (und das aufrichtig, fürchte ich), dass sie, wenn sie erst ganz ihm gehören, mehr sie selbst sein werden als je zuvor.“1
Versuchen Sie für einen Moment, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Sie ein Mensch wären, der mit dem Mitleid Jesu handelt, der die Geduld aufbringt, die Gott mit uns hat, der unterscheiden kann, der sanft ist, aber zugleich souverän, der nichts anderes will, als mit seinem Leben den Willen und die Absicht Gottes zu erfüllen. Dies ist genau das Leben, das Jesus Ihnen ermöglichen möchte. Er möchte Sie in einen Menschen verwandeln, der motiviert ist von dem, was schön, nicht von dem, was lustvoll ist; von dem, was großzügig, nicht von dem, was selbstsüchtig ist, von dem, was edel, nicht von dem, was unaufrichtig ist, von dem, was schöpferisch ist – nicht zerstörerisch.
Wollen Sie ein solcher Mensch werden? Wenn ja – hier ist ein bewährter und biblischer Weg, durch den dieses Bild Gottes in Ihnen wieder zum Vorschein gebracht werden kann.
Übungen wollen geübt sein
Jahrhundertelang haben die großen Lehrer der Christenheit vermittelt, wie „die Tugenden Christi“ eingeübt werden können. Sie meinten damit die innere Ausrichtung und das Verhalten, die an der Person und im Leben Jesu deutlich werden – eine Orientierung auf einen reifen Charakter. Die Väter des Glaubens gingen nicht davon aus, dass das „neue Leben“ sich plötzlich in einem Menschen zeigt, wenn er zum Glauben kommt. Sie wussten, dass es wachsen muss – in einem allmählichen Prozess der inneren Umgestaltung des Herzens.
Der Bekehrung, die einen Anfang im Glauben setzt, muss das Erlernen einer entsprechenden Geisteshaltung und Lebenspraxis folgen. Genau darauf zielt die Einübung in die Grundhaltungen, die Jesus verkörpert. Natürlich ist das Heil etwas, das uns ausschließlich aus Gottes Gnade und ohne jedes menschliche Bemühen zuteil wird (Römer 9,16): Aber „in Christus zu wachsen“ erfordert das Zusammenwirken von Gott und Mensch (vgl. 1. Johannes 3,3; Philipper 2,12.13). Athleten und Bodybuilder trainieren regelmäßig, um ihren Körper zu formen. Christen können ihren Geist „formen“, indem sie sich in christliche Grundhaltungen einüben. Frömmigkeit, ein Leben, das der Berufung durch Gott entspricht, entsteht nämlich nicht plötzlich und nicht dadurch, dass wir ein schnelles Gebet sprechen, durch das wir unser Leben Gott unterstellen.
Die christlichen Grundhaltungen – früher auch Tugenden genannt – bezeichnen innere Haltungen und Verhaltensweisen, die sich im Leben Jesu erkennen lassen. Wir handeln im Geist Jesu, wenn wir uns entscheiden, lieber zu dienen als zu herrschen oder zu manipulieren, lieber freundlich zu sein als aufbrausend. Das sind Verhaltensweisen, zu denen wir uns entscheiden können.
Das Gegenteil, früher „Laster“ genannt, ist unser natürliches „altes Leben“. Es erwächst daraus, dass das Ego den Ton angeben darf. In einem selbstherrlichen Leben regieren Zorn, Selbstsucht, Selbstüberschätzung, Anmaßung. Das Laster gibt dem Ego die Macht: „Ich tue, was ich will; ich schaffe mich selbst nach meinem Bild.“ Die Tugenden führen zu geistlicher Gesundheit; ein Leben aus dem Ego ist wie ein geistliches Krebsgeschwür, es verzehrt uns von innen heraus.
In der christlichen Tradition sah man die Tugenden von alters her als die Herzenshaltungen an, die Jesus selbst lebte. Es sind Wege, eine gelingende Beziehung zu Gott und den Menschen zu bauen. Geistliches Wachstum wurde daran gemessen, inwieweit ein Christ in seiner Persönlichkeit reifer und Christus ähnlicher wurde – nicht nur daran, wie viel theologisches Wissen er erworben hatte. Und eine wirkliche Veränderung, die von Dauer sein soll, erwächst, so wussten die Väter, nur aus einem erneuerten und umgestalteten Herzen.
Eine belastete Geschichte
Leider ist die Praxis der Einübung in christliche Tugenden oder Grundhaltungen belastet. Es gab Zeiten, in denen die Ideale christlichen Lebens nur dazu missbraucht wurden, Menschen abhängig und klein zu halten und ihnen Schuldgefühle einzupflanzen. Oder einzelne Übungen, wie Bußfertigkeit oder Demut, wurden als kirchliche Strafen verhängt. Wir kennen die Auswüchse der Selbstkasteiungen, die das Mittelalter hervorbrachte. Welch ein tragisches Missverständnis von Übungen, die keineswegs nur äußerlich praktiziert werden wollen, sondern die vom innersten Kern unseres Wesens ausgehen und es uns ermöglichen wollen, dem Gefängnis der Selbstbezogenheit zu entkommen.
In besseren Zeiten verstanden die Christen, dass der sehr konkrete Weg einer Einübung in bestimmte Grundhaltungen des Herzens ein wichtiges Werkzeug für die Vertiefung ihrer Beziehung zu Gott darstellte. Unsere Väter wussten: Wenn ein Mensch sich bekehrt, entspricht sein tatsächliches Leben und Verhalten noch längst nicht dem Ideal eines christlichen Lebens. Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass schlechte Gewohnheiten nicht über Nacht verschwinden, und dass gute Gewohnheiten Zeit brauchen, bis sie uns in Fleisch und Blut übergehen.
Wenn man heute von Tugenden spricht, glauben die Leute, man rede einer freudlosen, tristen, zwanghaften Lebensweise das Wort. Das tugendhafte Leben ist nicht sehr in Mode; man versteht darunter in erster Linie etwas, was uns einschränkt: „Tugend bedeutet: Alles, was Spaß macht, ist verboten.“ Die Christen früherer Zeiten wussten dagegen: Die biblischen Tugenden ermöglichen ein gutes Leben – sie zeigen uns auf, was aus uns werden kann: ein Mensch, der Christus ähnlich ist.
Christus möchte ein neues Leben in uns entfalten. Dieses Leben gründet sich nicht auf Gebote und Verbote. Es gibt auch keinen exakten Maßstab für „geistliche Leistungen“ und „geistlichen Erfolg“ – etwa, wie oft und wie erfolgreich Sie anderen von Ihrem Glauben erzählen, wie oft und wie lange Sie die Bibel lesen, wie oft Sie zum Gottesdienst gehen. (Es gilt sogar: Wenn Sie die Einübung in geistliche Grundhaltungen nur als „Pflichterfüllung“ verstehen, dann haben Sie ziemlich anstrengende Zeiten vor sich.) Das Leben, das Christus in uns zur Entfaltung bringen möchte, ist ganz sicher nicht abhängig von unseren Bemühungen. Es geht nicht darum, sich mit