Klassische Wahrheitstheorien gehen von dem Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten aus, wonach etwas nicht gleichzeitig der Fall und nicht der Fall sein kann. Etwas ist somit entweder wahr oder falsch. Bereits Aristoteles hat dagegen eingewendet, dass Aussagen über die Zukunft nicht in diesem Sinne den Regeln der zweistelligen Logik unterworfen sind. Ob – so sein Beispiel – morgen eine Seeschlacht stattfinden wird oder nicht, können nicht einmal die mit Sicherheit sagen, welche die Schlacht für den kommenden Tag planen. Im Fall der Aussage: »Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze« ist nicht nur dieser Satz, sondern auch sein Gegenteil falsch, weil die Monarchie in Frankreich längst abgeschafft worden ist.
Noch komplizierter liegen die Dinge im Bereich der Fuzzylogik. Damit ist jener Bereich der Logik gemeint, der sich mit dem Gebrauch von unscharfen (»fuzzy«) Wörtern wie »ein wenig«, »sehr«, »stark« oder »schwach« beschäftigt. Wo vage Aussagen gemacht werden, lässt sich schwerlich messerscharf zwischen wahr und falsch unterscheiden. Ab wieviel Grad Celsius ist es zum Beispiel »sehr warm«? Und wie lässt sich beweisen oder widerlegen, dass es mir sehr warm oder kalt ist? Wie lässt sich objektiv entscheiden, ob es in Deutschland zu viele Flüchtlinge gibt? Hängt das von der Zahl der freistehenden Wohnungen ab, von der Zahl der offenen Arbeitsstellen, von einem bestimmten Prozentsatz an Migranten in einem bestimmten Wohngebiet? Wer kann beweisen, ob die Bürger in einer Stadt sehr sicher leben? Entscheidet sich das anhand der Zahl der gemeldeten Einbrüche und Diebstähle? Deutet eine gestiegene Zahl an angezeigten Gewaltdelikten auf einen Anstieg der Gewalt hin oder auf eine größere Bereitschaft, gegen solche vorzugehen? Was sagt die Zahl an aufgeklärten Verbrechen über die tatsächliche Sicherheitslage aus? Schließlich lässt sich über Dunkelziffern trefflich spekulieren und streiten. »Im Dunkeln ist halt gut Munkeln«. Und wie weit ist das Sicherheitsgefühl der Bürger ein Faktum, um die Sicherheitslage einer Region objektiv einzuschätzen? Populismus und postfaktische Politik sind für die Fuzzylogik ein reiches Betätigungsfeld.
Postfaktischer Politikstil lässt sich aber nicht nur bei einer Partei wie der AfD und nationalistischen Populisten vom Schlage eines Viktor Orbán oder eines Donald Trump beobachten. »Postfaktisch« war zum Beispiel die Art und Weise, wie Regierung, Wirtschaft und Medien in den Anfangsmonaten die ungeregelte Masseneinwanderung schönredeten, die für Wirtschaft und Gesellschaft angeblich von größtem Nutzen sei, während bestehende oder sich abzeichnende Probleme bei der Integration kleingeredet oder schlichtweg geleugnet wurden.
Ebenfalls »postfaktisch« war – um ein Beispiel aus der Zeit vor der Flüchtlingskrise in Erinnerung zu rufen – die sogenannte Wulff-Affäre. Selbst Qualitätsmedien haben sich anfangs an der Skandalisierungsorgie rund um die angebliche Vorteilsnahme des Bundespräsidenten Christian Wulff beteiligt, der im Februar 2012 von seinem Amt zurücktrat, und auch die Ermittlungsbehörden missachteten das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Sein Ruf wurde schwer beschädigt, er selbst aber am Ende von allen Anschuldigungen freigesprochen. Das siebente Gebot: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden«, das nach Luthers Auslegung nicht nur die Lüge verbietet, sondern auch von uns fordert, den Nächsten nicht zu verraten, zu verleumden oder seinen Ruf zu verderben, sondern ihn, wo es möglich ist, zu entschuldigen, Gutes von ihm zu reden und alles zum besten zu wenden, wurde in dieser Medienhatz mit Füßen getreten.
Populismus, der dem Volk nicht aufs Maul schaut, sondern nach dem Munde redet, gedeiht auf dem politisch rechten wie auf dem linken Flügel. Die komplizierte Welt der globalisierten Ökonomie lässt man sich lieber von Thomas Piketty oder Yanis Varoufakis als von seriösen Ökonomen erklären. Dass Piketty bei seinen historischen Analysen, mit denen er beweisen will, dass der Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu steigender Vermögenskonzentration führt, die wiederum die Wirtschaft stagnieren lasse und dadurch die Demokratie bedrohe, vielfach falsch liegt,4 interessiert seine Anhänger nicht. Dass seine Thesen nicht nur bei Globalisierungskritikern an den politischen Rändern verfangen, sondern in der Mitte der Politik angekommen sind, beweist das Beispiel des deutschen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel. Ihn interessiere nicht so sehr, ob Pikettys Zahlen stimmen, sondern die politische Botschaft, dass eine neue Politik der staatlichen Umverteilung angesagt ist, meinte er nach einem Treffen mit dem französischen Ökonomen.
Ein anderes Beispiel: Hartnäckig hält sich unter Globalisierungskritikern die Legende, die Stiftung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften durch die schwedische Reichsbank im Jahr 1968 habe einzig und allein dem Ziel gedient, eine neoliberale Ökonomie zu fördern. Historisch entbehrt diese Behauptung jeder Grundlage, wie die Historiker Avner Offer und Gabriel Söderberg in ihrem Buch »The Nobel Factor« zeigen.5 Zwar begann zur gleichen Zeit, als der neue Nobelpreis gestiftet wurde, der Aufstieg des neuen Marktliberalismus. Tatsächlich wurden in den ersten Jahren aber Ökonomen ausgezeichnet, die einen keynesianischen Standpunkt vertraten. Korrelation und Kausalität müssen also auch in diesem Fall, wie so oft, auseinandergehalten werden.
Die Versuchung zum Populismus aus vermeintlich guter Absicht zeigt sich auch im Bereich der Armutsbekämpfung. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, präsentierte 2015 seinen Armutsbericht mit der alarmistischen Botschaft, die Armut in Deutschland sei sprunghaft angestiegen, und warnte einmal mehr vor dem drohenden Untergang des Sozialstaates. Der Geschäftsführer der Caritas Deutschland Georg Cremer hielt dagegen, dass man zwischen Armutsrisiko und tatsächlicher Armut unterscheiden müsse und dass steigende Zahlen von Sozialleistungsempfängern eher auf eine Stärkung als eine Schwächung des Sozialstaates hinweisen.6 Doch solche differenzierten Betrachtungen lassen sich nicht so leicht in griffige politische Parolen zuspitzen. Mit alarmistischer Armutspolemik ist freilich keinem Menschen wirklich geholfen.
In ihrer Globalisierungskritik treffen sich linke und rechte Postfaktiker. Es soll gar nicht bestritten werden, dass die Globalisierung nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer kennt. Diese haben etwa in Gestalt weißer Arbeiter im »Rust Belt« und im Mittleren Westen der USA den Ausgang der Präsidentschaftswahlen bestimmt. Generell aber profitieren gerade die ärmeren Länder von der Globalisierung und vom Freihandel. Weltweit hat die Armut nicht etwa zu-, sondern abgenommen. Doch im Protest gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA sind sich linke und rechte Populisten einig, wobei sie auch noch von kirchlichen Gruppen und Repräsentanten Unterstützung finden. Politiker in Regierungsverantwortung reagieren auf diesen Protest mit einer Taktik des Lavierens, die den kursierenden Verschwörungstheorien nicht etwa den Wind aus den Segeln nehmen, sondern nur neue Nahrung geben.
Dass das Phänomen postfaktischer Politik nicht gänzlich neu ist, zeigt ein Zitat von Hannah Arendt aus ihrer Studie über »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Dort steht zu lesen: »Die Mentalität moderner Massen vor ihrer Erfassung in totalitären Organisationen ist nur zu verstehen, wenn man die Durchschlagskraft dieser Art Propaganda voll in Rechnung stellt. Sie beruht darauf, daß Massen an die Realität der sichtbaren Welt nicht glauben, sich auf eigene, kontrollierbare Erfahrung nie verlassen, ihren fünf Sinnen misstrauen und darum eine Einbildungskraft entwickeln, die durch jegliches in Bewegung gesetzt werden kann, was scheinbar universelle Bedeutung hat und in sich konsequent ist. Massen werden so wenig durch Tatsachen überzeugt, daß selbst erlogene Tatsachen keinen Eindruck auf sie machen.«7
Was also heißt hier eigentlich »Post Truth Era«? Wann, möchte man fragen, hat denn die Menschheit je in einem Zeitalter der Wahrheit oder einer Epoche der faktenbasierten Politik gelebt? Pressezensur war und ist in vielen Staaten der Welt ein Mittel der Politik, heute auch die Zensur des Internets in Staaten wie China, Nordkorea oder der Türkei. Im real existierenden, »wissenschaftlichen« Sozialismus galt nur das als unbestreitbare Tatsache, was der Ideologie des dialektischen Materialismus in den Kram passte. Dass das Zentralorgan der KPdSU »Prawda – Wahrheit« hieß, kam einer Verhöhnung derselben gleich. Noch heute erscheint das Blatt, nunmehr als Sprachrohr der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Die Linke im Westen verklärte nicht nur den Stalinismus, sondern redet sich auch die Verhältnisse im poststalinistischen Sowjet-Kommunismus schön und ebenso die