Das ist freilich ein mehrdeutiger Satz. Manche verstehen ihn so, als sei damit gemeint, dass das, was heute als unumstößliche Wahrheit gilt, sich schon morgen als Irrtum herausstellen kann. Bei wissenschaftlicher Wahrheit im modernen Sinne handelt es sich um Hypothesen, die immer unter dem Vorbehalt stehen, in der Zukunft falsifiziert zu werden, wobei freilich die Unterscheidung zwischen Verifikation und Falsifikation hinfällig würde, wenn man die Unterscheidung zwischen wahr und falsch grundsätzlich in Abrede stellen wollte. Auch die Geisteswissenschaften und die moderne Hermeneutik – also die Lehre vom Verstehen und Interpretieren – lassen sich von der Einsicht leiten, dass jede Erkenntnis kontextabhängig und geschichtlich relativ ist. Dass alle Wahrheitserkenntnis geschichtlich und somit vorläufig ist, wie Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk »Wahrheit und Methode« ausführt, bedeutet freilich nicht, die Idee der Wahrheit und die Suche nach ihr überhaupt aufzugeben. Eine skeptisch-relativistische Lesart, wie sie dem postmodernen Denken und den Grundideen des radikalen Konstruktivismus entspricht, meint hingegen, es sei am besten, auf die Rede von der Wahrheit ganz zu verzichten. Doch die These, es gebe keine Wahrheit, sondern bestenfalls Wahrheiten im Sinne von praxistauglichen Überzeugungen, deren Gültigkeit immer auf die Überzeugungsgemeinschaften, deren Mitglieder sie teilen, beschränkt bleibt, ist freilich selbstwidersprüchlich, weil sie ihrerseits beansprucht, wahr zu sein. Aulus Gellus oder Francis Bacon, der dessen Diktum aufgegriffen hat, wollten hingegen etwas ganz anderes sagen, nämlich dass sich die Wahrheit im Laufe der Zeit mehr und mehr durchsetzen wird. Bei Gallus hat der Ausspruch außerdem eine moralische Note. Gemeint ist, dass es sich nicht lohnt, schlecht zu handeln, weil die Schlechtigkeit der eigenen Taten früher oder später ans Licht kommen wird.
Postfaktisch agierende Politiker glauben hingegen, mit ihren Lügen, Verleumdungen und Verdrehungen der Tatsachen ungestraft davonzukommen. Der mahnende Hinweis auf das biblische Gebot: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten« prallt an ihnen ab. Von schlechtem Gewissen keine Spur. Es geht ihnen nicht einmal mehr darum, ihre offenkundigen Lügen zu verschleiern, und auch diejenigen, die ihnen applaudieren und ihre Stimme geben, wissen – wie etwa im Fall von Donald Trump – durchaus, dass es ihre Polithelden mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Sie sind nicht etwa nur die Opfer politischer Verführungskünste, sondern ein aktiver Teil des Geschehens, das zum Niedergang der politischen Vernunft führt. Sie lassen sich durch »Faktenchecks«, wie man das heute nennt, nicht beirren, weil sie die süße Lüge der bitteren Wahrheit vorziehen (Alard von Kittlitz) und die Nase voll haben von allen Fakten und allem Expertenwissen. Sie wählen die populistischen Lügner, weil sie auf demokratischem Weg das demokratische System liberaler Prägung selbst abwählen wollen und ihre sozialen Abstiegsängste durch autoritäre Führerpersonen gebannt wissen wollen, die wie Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei in Ungarn für das Modell einer autoritären »Demokratie« nach dem Vorbild von Putins Russland oder Chinas werben und sich offen gegen die »westliche« Tradition einer liberalen Demokratie und ihre Werte stellen. Putins Staatsapparat betreibt wie in den Tagen des KGB eine gezielte Desinformationspolitik und nutzt das Internet als Waffe.
Der Grundsatz, man dürfe sich in der Politik nicht beim Lügen erwischen lassen, hat unter Populisten und ihren Anhängern ausgedient. Wer beim Lügen ertappt wird, ist erst recht erfolgreich, wenn er die Flucht nach vorn antritt und den lügenden Kreter gibt: »Ich lüge immer!« Das Paradox des lügenden Kreters, der die Wahrheit sagt, wenn er lügt, und lügt, wenn er die Wahrheit sagt, charakterisiert den Umgang postfaktischer Politiker und ihrer Wählerschaft mit der Wahrheit. Die als »Lügenpresse« diffamierten Medien dringen nicht durch und bringen die Filterblasen derer, die das Recht auf die eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln (Sascha Lobo), nicht zum Platzen. Der »Lügenpresse« wird nämlich zum Vorwurf gemacht, einfach die Unwahrheit zu verbreiten, also zu lügen, ohne es zuzugeben. Sie ist damit dem lügenden Kreter moralisch unterlegen, der gerade in der Lüge der Wahrheitsliebe verpflichtet ist. Die den postfaktischen Politikern widersprechenden Realitäten aber werden – frei nach Hegel – mit dem vernichtenden Urteil zum Schweigen gebracht: »Um so schlimmer für die Wirklichkeit!« Vielleicht sollte man überhaupt besser von einem kontrafaktischen als einem postfaktischen Politikverständnis sprechen.
Was politisch zählt, sind nicht Fakten, sondern was die Bürger empfinden. Und ihre Empfindungen scheren sich nicht darum, ob sie der Überprüfung der Faktenlage standhalten oder nicht. Mehr noch: Die Grenze zwischen Fakten und Gefühlen wird derart verwischt, dass nun auch Emotionen als Fakten gelten, denen Politiker Rechnung zu tragen haben, wollen sie nicht von denen hinweggefegt werden, die sich für »das Volk« halten oder zu wissen vorgeben, was »das Volk« will und fühlt. Mit der Feststellung konfrontiert, dass 98 Prozent der Migranten in Deutschland gesetzestreu sind und nur ein kleiner Teil kriminell wird, konterte der AfD-Kandidat Georg Pazderski Anfang September 2016 im Berliner Wahlkampf: »Das, was man fühlt, ist auch Realität.«
Fakten wiederum werden zur reinen Ansichtssache erklärt. Mögen zum Beispiel auch 99 Prozent der Klimaforscher der Ansicht sein, die Erderwärmung sei zu einem erheblichen Teil auf den Menschen zurückzuführen, werden ihre Argumente, die sie für diese Annahme ins Feld führen, als interessengesteuerte Fehlinformationen abgetan. Allüberall blühen Verschwörungstheorien, und jeder Versuch, ihre Haltlosigkeit nachzuweisen, wird von ihren Anhängern nur als weiterer Beweis für die Richtigkeit ihrer Verschwörungstheorien gewertet.
So entsteht die paradoxe Situation, dass das vermeintliche Ende aller Fakten und Wahrheiten selbst neue Fakten schafft. Bestes Beispiel dafür ist der »Brexit«. Kaum hatten die Agitatoren, die für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU getrommelt hatten, die Volksabstimmung gewonnen – womit wohl nicht einmal sie selbst gerechnet hatten –, erklärte Nigel Farage, es sei wohl ein Fehler gewesen zu behaupten, durch den Brexit ließen sich Millionen einsparen, die dann ins marode öffentliche Gesundheitswesen fließen könnten. Glaubt einer seiner Anhänger im Ernst, dass ihm dieser »Fehler« erst nach Schließung der Wahllokale aufgefallen ist? Doch ficht das keinen der Brexit-Befürworter an. Bezeichnenderweise hat Oxford Dictionaries, ein Department der Universität Oxford und Abteilung von Oxford University Press, im November 2016 »post thruth« – das englische Wort für »postfaktisch« – zum Wort des Jahres gekürt. »Postfaktisch« schaffte es einen Monat später zum Wort des Jahres in Deutschland. Oder sollte auch das bloß ein Gerücht gewesen sein?
Das deutsche »postfaktisch« stammt übrigens nicht aus der Politik-, sondern aus der Literaturwissenschaft. Man spricht z. B. von postfaktischer Holocaust-Literatur und meint damit (auto)biographische Darstellungen, die in größerem zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen verfasst worden sind und sich weiter von den Fakten entfernen als Darstellungen, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden.1
Den Begriff der »Post-Thruth Era« hat der Soziologe und Schriftsteller Ralph Keyes bereits 2004 in die Debatte eingeführt.2 Damals ging es um die Frage, wer für die Lügen verantwortlich war, mit denen die Regierung unter George W. Bush den Irakkrieg und den Sturz Saddam Husseins begründet hatten. Laut Oxford Dictionary tauchte der Begriff »Post-Thruth World« aber bereits 1992 in einem Artikel des Dramatikers Steve Tesich auf, der sich mit der Iran-Contra-Affaire und dem Golfkrieg 1990/91 beschäftigte. Tesich erklärte nicht etwa das amerikanische Volk zum Opfer politischer Intrigen, sondern machte es selbst für das Spiel mit der Lüge als Mittel der Politik verantwortlich, als er schrieb: »We, as a free people, have freely decided that we want to live in some post-truth world.«3
Täuschen und Tarnen als Mittel der hybriden Kriegsführung, von der man seit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts und der russischen Annexion der Krim spricht, sind letztlich nicht neu. Mittel des konventionellen Krieges werden mit Elementen der verdeckten Kriegsführung, des Einsatzes von Spezialkräften und der Desinformationspolitik verknüpft. Kriege werden nicht mehr förmlich erklärt; und wer gegen wen auf welcher Seite kämpft, lässt sich für Beobachter schwer ermitteln. Auch der Syrienkonflikt, bei dem es sich nicht um einen reinen Bürgerkrieg handelt, sondern in dem auch mehrere sich überlagernde Stellvertreterkriege geführt werden, ist ein weiteres Beispiel. Nicht nur die Interpretation der Fakten, sondern schon ihre Erhebung wird beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, wenn neutralen Beobachtern systematisch der Zugang zu den Kampfgebieten verwehrt wird. Ähnlich