(6) Gottesdienst und Lynchjustiz (S. 15, Z. 24 – S. 21, Z. 19)
Als am Nachmittag auch die kleinen Nachbeben aufgehört haben, verbreitet sich die Kunde über einen Gottesdienst, der in der Stadt abgehalten werden soll. Die Messe soll in der Dominikanerkirche stattfinden, die das Erdbeben als einziges Gotteshaus überstanden hat. Der Prälat des Klosters will die Messe selbst halten und Gott anflehen, ein weiteres Unglück zu verhindern (S. 15). Schon machen sich zahlreiche Menschen auf den Weg in die Stadt.
Auch Don Fernandos Familie diskutiert, ob sie die Diskussion, ob man an der Messe teilnimmtMesse besuchen soll. Donna Elisabeth, die vorhin bereits eine Weile scheinbar in Gedanken vertieft auf Josephe gestarrt hat, spricht sich gegen eine Teilnahme aus. Sie führt an, dass solche Feste wiederholt werden würden und dass es, in Anbetracht der Unruhen am Vortag, nicht sicher sei, in die Kirche zu gehen. Sie begründet ihre Sicherheitsbedenken jedoch nicht. Wahrscheinlich will sie nicht schlecht über Josephe und ihre kleine Familie reden. Josephe selbst möchte unbedingt gehen, da sie Gott für ihr neu gewonnenes Glück danken will. Donna Elvire stimmt ihr zu und überredet den Rest ihrer Familie. Elisabeth jedoch zögert immer noch aufgrund eines unguten Vorgefühls, das sie nicht näher beschreibt. Schließlich entscheidet sie sich, bei ihrem kranken Vater und der verletzten Schwester Donna Elvire zurückzubleiben. Josephe will ihr den kleinen Juan geben, doch dieser hat sich bereits an Josephe gewöhnt und beginnt zu weinen, als er von ihr getrennt zu werden droht. Schließlich nimmt Josephe ihn mit (S. 16).
Nun brechen vier Erwachsene und zwei Kinder auf. Sie laufen in folgender Konstellation: Josephe trägt den kleinen Juan und Don Fernando führt sie am Arm. Jeronimo geht derweil mit Donna Constanze und trägt seinen eigenen Sohn Philipp (S. 17). Unbeteiligte würden vermutlich annehmen, es handle sich um zwei Paare, die jeweils einen Säugling dabeihaben.
Als sich die Gruppe gerade fünfzig Schritte entfernt hat, unternimmt Elisabeth äußert erneut BedenkenElisabeth noch einen Versuch, die Gruppe aufzuhalten. Zuvor hat sie sich angeregt mit Elvire unterhalten und diese bestätigt ihr ungutes Gefühl wahrscheinlich, indem sie sie auf Josephes Geheimnis hinweist. Nun flüstert Elisabeth Don Fernando etwas ins Ohr (S. 17). Dieser stellt Rückfragen und entgegnet schließlich, Donna Elvire möge sich beruhigen. Die Gruppe geht wie geplant zum Gottesdienst.
Die Kirche ist brechend voll und auch auf dem Vorplatz haben sich Gläubige versammelt. Der Gottesdienst beginnt mit einer Predigt, die einer der ältesten Chorherren hält. Bei seinen Ausführungen nimmt er Die Predigt peitscht die Menge aufkein Blatt vor den Mund. Er sagt, das Jüngste Gericht könne kaum schlimmer sein als das Erdbeben des Vortages und deutet das Unglück als Strafe Gottes für den Sittenverfall in der Stadt. Es sei nur der unendlichen Geduld Gottes zuzuschreiben, dass St. Jago noch nicht völlig untergegangen sei (S. 18).
Als Beispiel für den sittlichen Verfall führt der Chorherr schließlich das Verhältnis Jeronimos und Josephes und den Vorfall im Klostergarten der Karmeliterinnen an. Er nennt die beiden »Täter« (S. 18) beim Namen und zeigt sich auch entsetzt über das weltliche Gericht, das Josephe einen schnellen Tod zugesprochen hat. Nun wird Donna Constanze klar, mit wem ihre Familie den letzten Tag verbracht hat, und sie ruft entsetzt »Don Fernando!« (S. 18) Dieser reagiert ruhiger, da er dank Elisabeth und Elvire einen Wissensvorsprung hat. Ohne viel Aufsehen will er die Gruppe aus der Kirche evakuieren. Doch dies scheitert, weil jemand Jeronimo und Josephe erkannt zu haben glaubt und ruft, dass die »gottlosen Menschen« (S. 18) mitten unter ihnen seien.
Nun gibt sich Don Fernando als Sohn des Kommandanten der Stadt, also als Angehöriger einer hochrangigen Militärperson, zu erkennen. Doch ein nahestehender Schuster mit Namen Pedrillo Josephe wird entdeckterkennt Josephe und fragt, wer der Vater des Kindes in Josephes Arm sei. Don Fernando zögert, denn tatsächlich hält Josephe ja seinen eigenen Sohn in den Händen. Josephe beteuert, das Baby sei nicht ihr eigenes, und bekräftigt, dass es sich bei ihrem Nachbarn um Don Fernando handelt.
Der Schuster fragt daraufhin, ob jemand der Umstehenden den vor ihm Stehenden kennt, doch ehe jemand antworten kann, wendet sich der kleine Juan von Josephe ab und will zu Don Fernando. Die Leute in der Kirche nehmen nun richtigerweise an, er sei der Vater des Kindes. Don Fernando und Jeronimo werden verwechseltFälschlicherweise denken sie jedoch auch, er müsse darum Jeronimo sein. Sofort wird die Tötung der drei gefordert. Nun erst gibt sich Jeronimo zu erkennen und verlangt, Don Fernando gehen zu lassen (S. 19).
Erst als ein Marineoffizier, Don Alonzo, die Identität Fernandos bestätigt, lässt der Mob von ihm ab. Es herrscht allgemeine Verwirrung. Diese will Don Fernando kämpft für Jeronimo und JosepheDon Fernando nutzen, indem er fordert, Josephe und Jeronimo zu ihrer eigenen Sicherheit zu verhaften. Auch versucht er, Jeronimo zu schützen, indem er Jeronimos Bekenntnis der eigenen Identität als Nothilfe darstellt: Der junge Mann habe sich nur als Jeronimo ausgegeben, um ihn selbst aus seiner Bedrängnis zu befreien. Auch der Schuster Pedrillo, so schlägt Fernando vor, soll abgeführt werden, weil er den Aufruhr ausgelöst habe. Doch die Menge ist von der Identität Josephes überzeugt, nachdem der Marineoffizier Don Alonzo nicht entschieden genug reagiert, als er vom Schuster zu ihr befragt wird. Diese übergibt kurzentschlossen beide Säuglinge an Don Fernando und sagt, er solle seine beiden Kinder retten. Doch Fernando bittet um den Degen des Marineoffiziers und bahnt seiner Gesellschaft den Weg ins Freie.
Abb. 1: Lithografie von Alois Kolb zum Erdbeben in Chili, die Jeronimo im Kampf gegen die Meute zeigt (1921)
Auch der Platz vor der Kirche ist voller aufgebrachter Leute. Einer von ihnen schreit: »dies ist Jeronimo Rugera, ihr Bürger, denn ich bin sein eigner Vater!« (S. 20) Danach streckt er Jeronimo und Constanze werden getötetJeronimo mit einem Keulenschlag nieder. Donna Constanze, die neben ihm stand, wird fälschlicherweise für Josephe gehalten, als »Klostermetze« (S. 20) beschimpft und nur wenige Sekunden später ebenfalls getötet. Direkt im Anschluss wird sie als Donna Constanze identifiziert.
Der Schuster Pedrillo hetzt den Mob sogleich erneut auf und fordert den Tod von Josephe. Eine Zeit lang gelingt es dem wutentbrannten Don Fernando, den Mob von den Kindern fernzuhalten. Mit den Worten »hier mordet mich, ihr blutdürstenden Tiger« (S. 20 f.) Josephe opfert sichwirft sich Josephe schließlich in den Mob und hofft so, den beiden Jungen und Fernando zumindest etwas Zeit zu erkaufen. Es ist Pedrillo persönlich, der sie erschlägt. Anschließend fordert er die Ermordung des Bastards, gemeint ist Josephes Sohn Philipp.
Don Fernando steht im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zu Wand. In der linken Hand hat er die zwei Neugeborenen, in der rechten führt er den Degen. Es gelingt ihm, sieben Angreifer zu töten, bevor Pedrillo schließlich eines der Kinder – es ist der kleine Juan wird ermordetJuan – am Bein erwischt und es im hohen Bogen gegen einen Kirchenpfeiler wirft. Das Kind ist sofort tot und liegt völlig zerschmettert auf dem Boden, und es kehrt plötzlich Stille ein. Der Tod des unschuldigen Kindes scheint selbst für den aufgebrachten Mob zu viel zu sein, und er zerstreut sich. Insgesamt haben mindestens elf Menschen das Leben verloren.
(7) Ende und Ausblick (S. 21, Z. 20 – S. 22, Z. 5)
Kleist lässt seine Erzählung nicht mit diesem Paukenschlag enden. Er verliert jedoch nur noch wenige Worte, um zu zeigen, was die verbliebenen Figuren im Folgenden machen. Der Marineoffizier Don Alonzo hilft Don Fernando die Leichen wegzuschaffen und gibt ihm zunächst Obdach. Fernando weiß nicht, wie er seiner Frau Donna Elvire den Tod des gemeinsamen Kindes beibringen soll. Einerseits will er sie wegen ihrer Verletzung schonen und andererseits ist er sich nicht sicher, wie sie seine Rolle bei den Vorfällen in und vor der Kirche beurteilen wird.
Donna Elvire erfährt über andere Kanäle vom Tod ihres Sohnes. Nach kurzer Trauer fällt sie ihrem Mann um den Hals. Kleist entlässt seine Leserinnen und Leser mit