Mandelbaum schüttelte besorgt den Kopf.
„Sie muss“, erwiderte er bestimmt. „Ich rede mit ihr.“
„Wir können doch …“ Ava zögerte. „Wir können doch am Freitag trotzdem unsere Gäste empfangen, oder, Vater?“
„Ach, ja. Bitte“, rief Simon, bevor Mandelbaum etwas sagen konnte. „Es ist so wenig los in dieser Stadt. Und es sind doch nur ein paar Leute.“
„Ich weiß nicht“, sagte Mandelbaum unschlüssig. „Man wird uns mangelnde Pietät vorwerfen. ‚Seht nur die Mandelbaums‘, werden sie sagen. ‚Die Schwester liegt todkrank im Bett und sie feiern.‘ Ich kenne doch die Leute …“
„Es ist mir völlig gleichgültig, was die Leute sagen“, ereiferte sich Simon. „Es sind doch nur ein paar Freunde. Junge Leute aus angesehenen Familien. Das ist sicher nicht schlecht fürs Geschäft. Und mit ein paar von ihnen kann man sich wenigstens ein bisschen unterhalten. Über Literatur … Politik … Das ist wirklich selten hier.“
„Literatur … Politik“, wiederholte Mandelbaum verächtlich. „Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.“
„Was sollte es Wichtigeres geben als Politik?“, rief Simon.
„Ja, ja, ich weiß schon …“ Mandelbaum winkte ab. Die Gespräche mit seinen Kindern über dieses Thema liefen immer gleich ab. Simons dunkle Augen begannen zu funkeln, sobald das Gespräch auf Politik kam. Er wollte debattieren, argumentieren, streiten … Mandelbaum wurde durch ihn an seine eigene Jugend erinnert, als auch er sich von der Politik viel versprochen hatte. Damals war es nicht beim Debattieren geblieben. Aber gebracht hatte es letzten Endes … so gut wie nichts. Nicht für die Bürger und auch nicht für sein Volk. Seit Langem hatte er es aufgegeben, Erwartungen in die Politik zu legen. Er war nach Waldbrügg zurückgekommen und hielt sich nur an seine Geschäfte. Und er hatte Glück gehabt mit seiner Manufaktur.
„Es sollte euch nicht egal sein, was die Leute sagen“, sagte er. „Ihr dürft nie vergessen, wer ihr seid. Ihr hattet Glück. Wir alle hatten Glück. Aber ich habe auch schon andere Zeiten erlebt. Ihr seid in einer ruhigen Stadt und in einer relativ ruhigen Zeit aufgewachsen. Doch das ändert sich wieder. Und langsam wird es auch hier spürbar. Der Ton in den Zeitungen … Dieser Journalist, der hergekommen ist und den neuen Club gegründet hat …“
„Genau deshalb ist es doch so wichtig, den Unsinn nicht unkommentiert zu lassen, den Maarsen schreibt. Zu zeigen, dass wir hier am Leben teilnehmen“, erwiderte Simon eifrig.
Mandelbaum seufzte.
„Von mir aus ladet eure Gäste ein. Auch wenn ich wünschte, ihr würdet auf diese Treffen verzichten.“
Der alte Escher hatte das Rathaus in schlechter Laune verlassen, und als er jetzt den Platz überquerte, wurde sie immer schlechter. Das Gespräch mit Mandelbaum war keinen Augenblick so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Als er die Unterhaltung in Gedanken noch einmal rekapitulierte, stand am Ende sogar er noch als Bittsteller da. Oder wie jemand, der unlautere Geschäfte vorschlug. Mandelbaum hatte ihn jedenfalls so seltsam angesehen, als würde er genau das vermuten. Von ihm, dem Bürgermeister. Weshalb wohl hatte er ihn zu einem offiziellen Gesprächstermin ins Rathaus gebeten? Um sich solchen Unterstellungen auszusetzen? Er hatte Mandelbaum von den Steuerreformen berichtet, mehr nicht. Dass er ihm als Unterstützung seines Unternehmens eventuelle Erleichterungen in Aussicht gestellt hatte, das sollte ihm jetzt als Bevorteilung ausgelegt werden? Escher war außer sich und erwiderte kaum einen der zahlreichen Grüße, die ihm verschiedene Leute auf dem Marktplatz zuriefen.
Wer war Mandelbaum, ihm diesen moralischen Zeigefinger vor Augen zu halten? Empört stieß Escher die Tür zum Kontor auf und platzte ins Büro von Hans. Der sah erstaunt auf und betrachtete seinen Vater, der mit rotem Kopf vor ihm stand. Dann lächelte er.
„Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie das Gespräch mit Mandelbaum verlaufen ist“, sagte er ruhig.
„Sei nicht so vorlaut“, herrschte Escher ihn an. Wütend schüttelte er den Kopf. „Also, so etwas ist mir noch nie passiert.“
Hans sagte nichts und wartete.
„Ich …“, stieß Escher hervor. „Ich … wollte ihm nur helfen.“ Er warf einen schnellen Blick auf seinen Sohn, als wolle er kontrollieren, ob er ihm glaubte.
„Nun ja“, erwiderte Hans lahm.
„Was heißt hier ‚Nun ja‘?“ Escher runzelte erbost die Stirn.
„Nun ja heißt, dass du doch mit ihm über die gekündigten Verträge sprechen wolltest.“
„Dazu ist es nicht gekommen“, sagte Escher barsch und winkte ab. Nur langsam wurde er ruhiger. „Zuerst haben wir über die bevorstehende Steuerreform gesprochen. Ich habe ihm in Aussicht gestellt, dass er möglicherweise von einigen Nachlässen profitieren könnte, die in meinem Ermessen liegen.“
„Und?“, fragte Hans. Sein Vater setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob er verstanden hat, um was es geht“, sagte er verächtlich.
„Ach, Vater.“ Hans beugte sich vor. „Wir kennen die Mandelbaums schon so lange … Er wird schon verstanden haben, um was es dir geht.“
„Dann bin ich noch auf unsere Geschäfte zu sprechen gekommen … indirekt. Ich wollte ihn ja nicht gerade bitten, wieder mit uns zusammenzuarbeiten.“
„Hm.“ Hans zuckte mit den Schultern. „Wir sind auf seine Aufträge nicht angewiesen.“
„Was verstehst du schon davon?“, fuhr sein Vater ihn an. Er atmete tief ein und fuhr dann ruhiger fort: „Vielleicht nicht, aber es wird schwer, den Verlust auszugleichen. Mandelbaum war einer unserer großen Kunden. Und jetzt stellt er sich quer …“
„Also …“, wollte Hans einwenden, überlegte es sich dann aber anders. In dieser Laune war mit seinem Vater nicht zu reden.
„Es ist immer das Gleiche“, sagte Escher mehr zu sich selbst als zu Hans. „Da denkt man, man kennt jemanden … Es ist einfach kein Verlass auf die Leute. Und am wenigsten auf Mandelbaum und seine Sippe.“ Er blickte auf. „Apropos Sippe. Seine Tochter heiratet. Da werden bald noch mehr Mandelbaums durch die Gegend laufen.“
„Was?“ Hans setzte sich abrupt auf. „Ava heiratet? Davon hat sie mir gar nichts erzählt.“
Escher sah seinen Sohn verwundert an.
„Ich wusste nicht, dass sie dir Rechenschaft schuldig ist“, sagte er.
„Das ist sie natürlich nicht“, beeilte Hans sich zu sagen und wurde rot. „Mich … wundert nur, dass sie es nicht erzählt hat.“
„Geht ihr immer noch zu ihren Gesellschaften?“, fragte Escher ärgerlich.
„Ab und zu“, sagte Hans lahm. „Es ist nicht gerade viel los in dieser Stadt.“
„Dann geh lieber mit Eduard in den Club. Da ist was los“, meinte Escher unzufrieden.
„Niemals“, rief Hans entrüstet. „Leute wie Maarsen setzen Gerüchte in die Welt, wiegeln die Leute auf, stiften Unruhe mit ihren völlig haltlosen Theorien …“
„Ach, was.“ Escher wischte Hans’ Einwände mit einer Handbewegung beiseite. „Das sind gebildete Leute. Weitgereist … Dieser Maarsen, na ja … Aber er lädt regelmäßig bekannte Gastredner ein. Industrielle, Politiker, die sich intensiv mit unserer Gesellschaft beschäftigt haben. Was ihr hilft, woran sie krankt. Leute, die am Aufbau und am Fortschritt mitarbeiten.“
„Wenn es nach denen geht, krankt die Gesellschaft vor allem an den Sozialisten und den Juden“, wandte Hans ärgerlich ein.
„Was ja kein Trugschluss ist“, sagte Escher trocken. „Oder glaubst du im Ernst, dass die Theorien von Marx, Lassalle und wie diese Querulanten alle heißen, unserer Nation