In Quantico hatte Kaely wesentlich zur Aufklärung einiger schwerer Verbrechen beigetragen. Kaum hatte Acosta von der talentierten Profilerin erfahren, da plante er auch schon, ihre Geschichte zu Papier zu bringen. Erst dann erfuhr er von ihrer Vorgeschichte. Als er Kontakt zu ihr aufnahm, traf sich Kaely mit ihm, nur um ihm klarzumachen, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte. Aber Acosta war hartnäckig. Er werde sie erst dann in Ruhe lassen, wenn sie ihm ein ausführliches Interview für sein Buch gewährt hätte. Das aber hatte sie bereits ausgeschlagen, weil sie ihm nicht so viel Macht über ihr Leben einräumen wollte.
Als ein Zeitungsartikel Kaely als Tochter des »Lumpenmanns« publik machte, beschloss der Leiter der Abteilung für Verhaltensanalyse, sie zu versetzen. Das FBI entschied sich für St. Louis, wo man bereit war, sie aufzunehmen. Ihre Vorgesetzten in Quantico hatten ihr versichert, sie nicht deshalb wegzuschicken, weil sie sie nicht mehr haben wollten. Sie sahen sich vielmehr gezwungen, Störungen im Team zu vermeiden – und Kaely vor Leuten zu schützen, die sie für die schrecklichen Taten ihres Vaters verantwortlich machten.
Kaelys Annahme, Acosta hätte bekommen, was er wollte, und würde sie nun in Ruhe lassen, war ein Irrtum. Er war tatsächlich in St. Louis aufgetaucht und hatte sogar schon einige Artikel über Kaely im St. Louis Journal veröffentlicht.
Solomon seufzte. Es war nicht einfach gewesen für Kaely, aber sie hatten es überstanden. Das dachten sie zumindest. Aber irgendwie hatte Acosta von Kaelys unkonventioneller Art, Profile zu erstellen, Wind bekommen. Bis heute wusste Solomon nicht, wer ihm das verraten hatte – vermutlich einer ihrer Mitauszubildenden in der Verhaltensanalyse in Quantico. Sie hatte Solomon gestanden, einer anderen Agentin, die sie für vertrauenswürdig hielt, davon erzählt zu haben. Doch diese hatte es trotzdem ausgeplaudert. Irgendwie musste es zu Acosta durchgesickert sein. Solomon fluchte leise. Es war kein Wunder, dass Kaely vielen Menschen nicht traute.
Da fiel ihm auf, dass er seine Arme gerade so stark gegen die Seiten seines Bürostuhls presste, dass sie schmerzten. Er versuchte bewusst, sich zu entspannen, aber es gelang ihm nicht. Was hatten sie nicht alles unternommen, um Kaely vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Aber Acosta verfolgte gnadenlos und ehrgeizig seine ganz persönliche Mission. Durch mehrere Anrufe bei der Zeitung hatte Solomon schließlich erreicht, dass die belanglose Kolumne über sie eingestellt wurde. Doch auch ohne immer neue Geschichten hatten die Menschen sie nicht vergessen. Sein Büro wurde ständig von Schriftstellern, Reportern und sogar Polizeibeamten belästigt, die etwas über die unglaubliche Kaely Quinn und ihre höchst ungewöhnliche Vorgeschichte erfahren wollten.
Solomon hatte von Anfang an beschlossen, Kaely zu behalten und die Störungen zu ignorieren. Langsam war der Hype abgeebbt. Aber nun war Acosta wieder aufgetaucht. Solomon hatte nicht die Absicht, ihm beim Schreiben seines Buches behilflich zu sein.
»Wie gesagt, Grace, schicken Sie ihn bitte zu Jacqueline Cross. Ich habe heute keine Zeit, mich mit ihm zu befassen.«
»Er sagt, er hat einen Brief. Etwas … Beunruhigendes. Eine Drohung gegen Agent Quinn. Er scheint fest davon überzeugt zu sein: Wenn Sie ihn nicht empfangen, steht Kaelys Leben auf dem Spiel.«
»Grace, bitte …«
Sie aber ließ sich nicht abwimmeln. Die Augen zu Schlitzen verengt, starrte sie ihn an. Solomon kannte diesen Blick und wusste, was er bedeutete. Für Grace war es bereits beschlossene Sache, dass er diesen Kerl empfangen sollte.
Er seufzte erneut, diesmal wesentlich lauter. »Also gut. Fünf Minuten, Grace. Und keine Sekunde länger.«
»Ja, Solomon«, entgegnete sie besänftigend. Er beschloss, die winzige Spur von Triumph in ihrer Stimme zu überhören.
Solomon griff nach seinem Kaffee und nahm einen Schluck. Kalt. Auch das noch! Acosta war ein aufdringlicher Lügner, der alles zu tun bereit war, um seine Story zu bekommen. Solomon hatte keine Ahnung, was er diesmal im Schilde führte, aber sicherlich war es wieder irgendein Trick, mit dem er das FBI dazu bringen wollte, ihm das ersehnte Interview zu gewähren.
Ein paar Minuten später trat Jerry Acosta in Solomons Büro. Heute wirkte er etwas verändert. Sein gewohntes schmeichlerisches Lächeln war verschwunden und er sah ein wenig nervös aus.
»Also, Acosta. Worum geht’s heute? Was immer Sie hierher treibt, Sie werden nicht mit Special Agent Quinn sprechen.«
Ohne Aufforderung ließ Acosta sich auf einen der Stühle vor Solomons Schreibtisch sinken. »Deshalb komme ich heute gar nicht. Es geht um … etwas anderes. Ich hatte das Gefühl, Sie sollten es sofort sehen.« Er griff in seine zerschlissene Aktentasche und zog einen wiederverschließbaren Plastikbeutel heraus. Darin befand sich offenbar ein Brief. Was hatte das zu bedeuten?
»Dieses Schreiben habe ich heute Morgen per Post bekommen. Zum Schutz habe ich es in die Plastiktüte gesteckt. Ich meine, falls Fingerabdrücke darauf sind. Beim Öffnen habe ich den Brief natürlich angefasst, meine müssen also auf jeden Fall darauf sein. Tut mir leid. Ich habe nicht gleich begriffen, was es war.«
Solomon nahm dem Reporter die Tüte aus der Hand und legte sie vorsichtig auf seinen Schreibtisch.
Druckbuchstaben auf billigem Notizpapier mit gelben Linien. Einfach aufzutreiben. Auch der Umschlag war einfach. Nichts Besonderes. Selbstklebend. Wahrscheinlich keine DNA-Spuren. Keine Absenderadresse. Abgestempelt in St. Louis. Bei näherem Hinsehen erkannte Solomon ein Gedicht.
Sieben kleine Elefanten
Eine Grabrede für Kaely Quinn
Sieben kleine Elefanten gingen mal spazieren.
Da stellte irgendwer im Wald
mit einem Schlag dort einen kalt.
Sechs kleine Elefanten packten ihre Sachen
und machten sich ganz schnell davon.
Noch hatten sie gut lachen.
Sechs kleine Elefanten schwammen im See.
Dabei ging leider einer drauf.
Er tauchte nicht mehr lebend auf.
Fünf kleine Elefanten packten ihre Sachen
und machten sich ganz schnell davon.
Noch hatten sie gut lachen.
Fünf kleine Elefanten saßen auf der Schaukel.
Da packte einer einen Strick,
ist irgendwann daran erstickt.
Vier kleine Elefanten packten ihre Sachen
und machten sich ganz schnell davon.
Noch hatten sie gut lachen.
Vier kleine Elefanten spielten mit dem Feuer.
Und einer kam – so ist das eben –
bei der Zündelei ums Leben.
Drei kleine Elefanten packten ihre Sachen
und machten sich ganz schnell davon.
Noch hatten sie gut lachen.
Drei kleine Elefanten setzten sich zum Essen.
Da legte nach dem ersten Bissen
einer sich aufs Ruhekissen.
Zwei kleine Elefanten packten ihre Sachen
und machten sich ganz schnell davon.
Noch hatten sie gut lachen.
Zwei kleine Elefanten spielten ganz allein.
Einer sorgte für Klarheit,
sagt’ dem Häscher die Wahrheit.
Eine Elefantendame packte ihre Sachen
und machte sich ganz schnell davon,
bald gab’s nichts mehr zu lachen.
Eine Elefantendame